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Der überlistete Waldgeist - Märchen von Theodor Koch-Grünberg: Indianermärchen aus Südamerika


Der überlistete Waldgeist

Eine Familie wurde einmal zu einem Trinkfest eingeladen. Alle gingen hin bis auf die Tochter, die sich weigerte mitzugehen. So blieb sie ganz allein zu Hause.

Am späten Nachmittag bekam sie Besuch von einer Freundin, die sie sehr lange nicht gesehen hatte. Wenigstens glaubte sie, es wäre ihre Freundin Dai-adalla, mit der sie den Namen getauscht hatte. In Wirklichkeit aber war ihr Besucher ein Waldgeist, der die Gestalt und das Aussehen ihrer Freundin angenommen hatte, um desto leichter seine schlechten Absichten ausführen zu können. Da sie so gute Freundinnen waren, redete der Waldgeist das Mädchen als Dai-adalla an und fragte sie, was sie so allein zu Hause treibe. Als das Mädchen erzählte, daß es sich geweigert hätte, zu einem Trinkfest mitzugehen, sagte der Waldgeist: »O, das ist gut! Ich werde heute nacht hier bleiben und dir Gesellschaft leisten.«

Am Abend, als es dunkel wurde, ließ sich eine Menge Frösche hören. Daher fragte das Mädchen ihre Freundin, ob sie gern Frösche äße, und da diese eine große Vorliebe dafür zugab, machten sie sich sogleich auf, um einige Frösche zu fangen.

Sie gingen zusammen hinaus in die Dunkelheit, jede nach einer anderen Richtung, und nach einer Weile fingen sie an, sich zuzurufen und sich gegenseitig zu fragen, wie viele sie gefangen hätten. Der Waldgeist antwortete: »Viele, aber ich esse sie gerade so schnell, wie ich sie fangen kann.« Diese sonderbare Antwort, daß sie die Tiere roh esse, erschreckte das Mädchen, und es erkannte plötzlich die wahre Natur ihrer angeblichen Freundin. Als der Waldgeist rief: »Dai-adalla! Wie viele hast du gefangen?« da antwortete das Mädchen: »Viele, aber ich tue sie alle in meine Kalabasse.«

Sie überlegte die ganze Zeit, wie sie von ihrer Gefährtin weg in Sicherheit kommen könnte, denn sie wußte nur zu gut, daß der Waldgeist trotz der Dunkelheit ihren Standort nach dem Klang ihrer Stimme genau erkennen konnte. Als der Waldgeist ihr daher noch einmal zurief, erwiderte sie: »Still! Sprich nicht! Mach keinen Lärm. Die Frösche werden erschrecken, und ich kann keinen mehr fangen!« Als wieder Stille herrschte, stahl sich das Mädchen leise zum Hause zurück, kroch behutsam hinein und drehte im Hause alle Töpfe um, ohne das geringste Geräusch zu machen. Dann warf sie die Frösche fort und kletterte auf das Dach, um abzuwarten, was sich nun ereignen würde.

Es dauerte nicht lange. Nachdem der Waldgeist eine Weile gewartet hatte und keine Antwort auf sei nen Ruf erhielt, merkte er, daß er überlistet war und eilte zum Hause zurück. Hier tappte er im Dunkeln umher und drehte einen Topf nach dem anderen um, aber seine Beute war nicht darunter. »Ach,« rief er laut genug, daß das Mädchen ihn hörte, »wenn ich gedacht hätte, daß sie mir entwischte, hätte ich sie zugleich mit den Fröschen verspeist.«

Er suchte vergeblich – es waren sehr viele Töpfe da – bis die Dämmerung kam, und er fort mußte. Das Mädchen stieg dann vom Dache herab und wartete auf ihre Eltern. Als diese ankamen, erzählte sie ihnen, wie der Waldgeist sie besucht hätte in der Gestalt einer Freundin. Da sagte der Vater: »Das nächste Mal, wenn wir dir sagen, du sollest mit uns kommen, wirst du gehorchen.«


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