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Der wunde Mann, die Aasgeier und die Ratte - Märchen von Theodor Koch-Grünberg: Indianermärchen aus Südamerika


Der wunde Mann, die Aasgeier und die Ratte

Meine Vorfahren wohnten in schönen Dörfern. Sie wollten Fische fangen und kamen zahlreich zusammen. Sie holten viele Timboblätter und stampften sie im Mörser. Dann gingen die einen weg und pflückten Timbofrüchte, die anderen schnitten Timbolianen ab. Die einen flochten große Körbe, die anderen kleine Körbe. Dann taten sie die Timboblätter in die vielen Körbe, um im Fluß des roten Arara zu fischen. Meine Leute versammelten sich und sprachen die ganze Nacht.

Als der Tag anbrach, wachte der Häuptling auf und rief: »Kinder, erwacht rasch! Gestern haben wir Timbo bereitet, nun wollen wir hingehen und ihn im Fluß des roten Arara auflösen!«

Seine Leute erwachten und tranken Stärkebrühe. Dann sprachen sie: »Jetzt wollen wir uns rasch aufmachen!« Die einen nahmen viel »Poikama« mit, die anderen viel »Hunu«, die anderen viel »Ascha«. Dann machten sie sich auf den Weg. Am Ufer des Flusses des roten Arara versammelten sie sich unter der Führung ihres Häuptlings. Mitten im Fluß lösten die einen viel »Poikama« auf, die anderen viel »Hunu«, die anderen viel »Ascha«. Die Männer schlugen den Fluß und schwammen und schrien fortwährend. Da kamen viele Fische an die Oberfläche, und sie machten reiche Beute.

Ein Mann sah einen Surubim hervorkommen. Er schwamm danach, um ihn zu greifen. Da biß ihn ein großer Alligator in das Schienbein. Der Mann schrie laut und ging aus dem Wasser. Seine Leute fragten ihn: »Warum schreist du denn so?«

»Ein großer Alligator hat mich ins Schienbein gebissen. Kommt und tötet den Alligator!«

Die Männer fürchteten sich und wollten nicht weiter fischen. Einer aber, der sich nicht fürchtete, schlug den großen Alligator, als er auftauchte, und sprach zu den anderen: »Ihr habt euch vor dem Alligator gefürchtet und wollt nicht mehr Fische fangen? Ich habe ihn schon geschlagen. Da liegt er! Kommt und seht!« »Wo?« sprachen sie und kamen herbei und schauten.

Nun fingen sie keine Fische mehr, sondern gingen heraus auf das Steilufer. Der Mann faßte den Verwundeten um den Leib und ging mit ihm weg. Diesen aber schmerzte sein Schienbein, und er weinte den ganzen Weg. Da fragte ihn der andere: »Warum weinst du?« Er antwortete: »Ich leide Schmerzen!« Da lud ihn der andere auf den Rücken und trug ihn heim. Dort banden sie ihm eine Hängematte an, nicht hoch vom Boden, und legten ihn hinein.

Sein schönes Weib war traurig über ihren Gatten und weinte. Da fragte sie eine andere Frau: »Warum weinst du?« »Mein Mann ist beim Fischen von einem großen Alligator gebissen worden,« erwiderte sie.

Der Mann, den der Alligator gebissen hatte, lag da und verbreitete einen sehr üblen Geruch, so daß seine Leute beschlossen, sich von ihm zu trennen. Der Häuptling sprach zu ihnen: »Unser Haus ist schon alt; laßt uns ausziehen!« Am anderen Morgen zogen sie aus. Der Wunde lag da und stank, und sie ertrugen seinen Gestank nicht, sondern gingen weg und ließen ihn zurück. Nur seine Frau nahmen sie mit.

Der Mann konnte ihnen nicht folgen. Er blieb liegen und verbreitete seinen Gestank. Da witterte ihn der Aasgeier. Er flog herbei, ließ sich auf die Erde nieder und erblickte ihn. Er wollte von dem Kranken essen, aber dieser sagte zu ihm: »Aasgeier, friß mich nicht! Ich war mit meinen Leuten in den Fluß des roten Arara fischen gegangen. Da biß mich ein großer Alligator. Gestank strömte von mir aus, als ich dalag. Da beschlossen meine Leute auszuziehen, denn sie ertrugen meinen Gestank nicht. Sie ließen mich da und gingen weg. Nur mein Weib nahmen sie mit.« Der Aasgeier hatte Mitleid mit ihm und flog davon.

Der Mann stank sehr. Dies roch ein anderer Aasgeier und flog hin zum Königsgeier, um es ihm zu melden.

Der Kaschinaua aber lag auf dem Platz (vor dem Haus) in der Sonne, und übler Geruch ging von ihm aus. Er ergriff ein Stück Holz und legte es neben sich.

Der Aasgeier kam zum Königsgeier und sprach zu ihm: »Königsgeier, dort liegt ein Kaschinaua und stinkt. Wir wollen ihn verspeisen!«

Da freute sich der Königsgeier. Er holte seine Kleider, zog sie an und beschmierte sich mit Uruku. Dann nahm er seinen Korb, lud ihn auf den Rücken und ging weg. Der Kaschinaua aber lag da und stank. Er ergriff das Stück Holz. Da kam der Königsgeier angeflogen und ließ sich neben dem Manne nieder. Dann sprach er zu sich selbst: »Bevor ich den Stinkenden esse, will ich zunächst meine Kleider ablegen.« Er tat es und trat dann zu dem Kaschinaua, um von ihm zu essen. Da schlug der Mann mit dem Holz den Königsgeier, und dieser schrie auf und flog ohne seine Kleider davon. Alle Aasgeier fürchteten sich und kamen nicht wieder. Der Kaschinaua aber blieb mit seinen stinkenden Wunden liegen. Er nahm die Kleider des Königsgeiers, freute sich und verwahrte sie.

In der Nacht weinte der Mann. Das hörte die Ratte und kam und fragte ihn: »Warum weinst du so sehr?«

»O, Ratte,« erwiderte er, »ich war mit meinen Leuten fischen; da biß mich ein großer Alligator.«

»Wo sind denn deine Leute, Kaschinaua?« fragte die Ratte weiter.

»Meine Leute sind weggezogen, da sie meine Wunden nicht ertrugen. Sie gingen weg und ließen mich da. Nur mein Weib nahmen sie mit. Sie hielten meine stinkenden Wunden nicht aus und verließen mich.«

Da bekam die Ratte Mitleid mit ihm. Sie ging und holte ihr Heilmittel und drückte es aus auf seine Wunden, und als der Morgen kam, stanken seine Wunden nicht mehr. Er ging hin und her. Er war ganz allein zu Hause. Die Ratte bereitete unterdes Heilmittel. So ging er den ganzen Tag von einer Seite zur andern. In der folgenden Nacht behandelte die Ratte seine Wunde wiederum mit dem Heilmittel, und der Kaschinaua wurde gesund. Am Morgen schlossen sich seine Wunden.

Da sprach die Ratte zu ihm: »Geh baden! Du bist schon gesund.« Der Kaschinaua tat es. Da wurde er sehr schön, und nun ging er hin, um seine Leute aufzusuchen. Sein Weib hatte sich schon wieder verheiratet.

Er kam zu seinen Leuten, und diese fragten ihn: »Wer bist du denn? Woher kommst du?«

»Ich war mit euch fischen,« antwortete er, »da biß mich ein großer Alligator. Meine Wunde stank, und ihr konntet es nicht ertragen und verließt mich. Nur mein Weib nahmt ihr mit.«

Da horchten die Männer auf und sprachen zu ihm: »Dein Weib hat schon einen anderen Gatten.«

Sein Weib hörte es, und da ihr alter Gatte so schön war, heiratete sie ihn von neuem; den anderen aber ließ sie laufen.


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