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Der Anwalt und der Bauer - Märchen von Erzherzog Ludwig Salvator: Märchen aus Mallorca


Der Anwalt und der Bauer

Ein Herr, der Anwalt war, ging zu Fuss nach der Stadt und als er gegen San Navata1 kam, begegnete ihm ein Bauer.

– Wohin geht's, fragte er ihn.

– Ich, bis zur Stadt, sagte der Bauer und ihr?

– In die Stadt.

– Also können wir zusammen gehen.

– Ja, sagte der Herr.

Als sie ein Stück weiter gegangen waren, sagte der Herr:

– Bruder, willst du mich führen, oder soll ich dich führen?

Der Bauer schaute ihn an, und gab ihm darauf keine Antwort, indem er überlegte:

– Welche Frage! Wie kann ich ihn führen, der ich ein so alter Mann bin?

Sie gingen weiter und unterhielten sich mitsammen und als sie bei Son Gornals2 waren, sahen sie Gerste, die sehr schnittreif und noch nicht geschnitten war, und der Herr fragte den Bauern:

Brüderchen, ist diese Gerste geschnitten oder nicht geschnitten?

Der Bauer schaute ihn an, gab ihm aber keine Antwort.

Weiter gehend unterhielten sie sich mit anderen Dingen und als sie an Porreras schon vorüber gegangen waren, begegneten sie einer Leiche, welche man zum Grabe trug und der Herr sagte zu dem Bauern:

– Brüderchen, dieser Mann, den man begraben will, ist der todt oder lebendig?

Der Bauer gab ihm auch darauf keine Antwort.

Mit allerlei Dingen sich unterhaltend, gingen sie weiter und weiter und kamen nach dem Prat, als es schon Dämmerung war.

Der Bauer war der Pächter einer Besitzung in der Ebene, nahe bei der Stadt und er sagte dem Herrn, es würde schon zu spät werden, bis er nach der Stadt käme; desshalb solle er in seinem Hause übernachten und am folgenden Morgen weitergehen.

Der Herr sagte ja, er wolle bleiben, und als sie bei dem Hause jenes Bauern, der einen Sohn und eine Tochter hatte, ankamen, stand die Tochter unter der Thüre.

– Welch schönes Portal, sagte der Herr, wenn nicht ein Stück daraus fehlen würde.

Der Mann wusste wieder nicht, was er von dem, was der Herr sagte, denken sollte, weil an dem Portal kein Stein fehlte.

Das Abendessen wurde bereitet und als es fertig war, setzten sie sich zu Tische.

Es wurde ein Hahn gebracht und der Hausvater bat den Herrn, dass er ihn zertheile. Der Herr gab den Kopf dem Manne, die Brust der Frau, die Füsse dem Sohne, die Flügel der Tochter und den Rücken behielt er für sich.

Als sie gespeist hatten, unterhielten sie sich noch eine Zeit lang und sagten dann dem Herrn, wenn er Lust habe, schlafen zu gehen, sei das Bett schon bereitet.

Der Herr ging schlafen und als die Familie ganz allein war, erzählte ihnen der Vater, dass jener Herr ihm mehrere seltsame Fragen vorgelegt habe. Er sagte ihnen, dass er ihn sogleich wie er ihm begegnet war, gesagt habe, ob er wollte, dass er ihn führen solle oder ob er ihn führen wollte.

– Ach, mein Vater, mein Vater, sagte seine Tochter, verstehst du nicht, dass er fragen wollte, ob du das Gespräch führen wolltest, oder ob er es thun sollte.

– Ach, sagte ihr Vater, ich sehe es schon, ich sehe es schon. Aber dann frug er mich wegen einer Gerste, die schnittreif aber noch nicht geschnitten war, ob sie geschnitten sei oder nicht.

– Ach, mein Vater, mein Vater, sagte seine Tochter, verstehst du nicht, dass, wenn der Eigenthümer ihm schuldet, wenn es auch noch nicht geschnitten ist, für jenen ist es schon.

– Du magst Recht haben, sagte ihr Vater, aber als wir in der Nähe des Friedhofes von Porreras waren, sahen wir eine Leiche und er hat mich gefragt, ob ich wisse, ob sie todt oder lebendig sei.

– Ach, mein Vater, mein Vater, sagte die Tochter, merkst du nicht, dass, wenn jener Todte selig geworden ist, er für immer lebend ist und wenn er verdammt ist, so ist es dasselbe, wie wenn er todt wäre.

– Aber wie wir hier ankamen, hat er zu mir gesagt, siehe welch schönes Portal, schade aber, dass ein Stück fehlt.

– Ach, mein Vater, mein Vater, merkst du nicht, dass ich unter dem Portal stand, und da mir ein Vorderzahn fehlt, bezog er das auf meinen Mund. Und als wir zu Abend assen, hat er euch den Kopf gegeben, weil ihr das Haupt des Hauses seid, die Brust der Mutter, weil sie es ist, welche die Last des Hauses trägt, die Füsse meinem Bruder, weil er willige Füsse haben soll, überall hin zu gehen, wohin ihr ihn schicket und mir die Flügel, weil ich fliegen und ausfliegen muss und noch nicht weiss, wo ich mich niederlassen werde.

– Ja, sagte ihr Vater, jetzt verstehe ich Alles. Dieser Herr scheint sehr verständig zu sein und du wärest sehr gut, mit ihm zu gehen.

– Also sagte auch ich, dachte bei sich der Herr, der alles gehört hatte, weil sein Zimmer nebenan und er noch nicht eingeschlafen war. Und wie gut wäre es für sie, mit mir zu kommen. Und sie wird kommen, wenn sie will, ich will bei ihrem Vater anfragen, um sie zu heirathen.

Und er schlief während der ganzen Nacht nicht; am anderen Morgen sagte er, dass er jenes Mädchen zu heirathen wünsche. Sie war einverstanden, sie vermählten sich und lebten in glücklicher Ehe.

Fußnoten

1 Besitzung des Distriktes von Felanitx, etwa 3 Kilometer von der Stadt entfernt, zur Linken des Weges.



2 Besitzung etwa 3 Kilometer von Porreras.


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