Wissenswertes

+ Lyrik
+ Epik
+ Dramatik

Anzeigen




A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z


zurück zu Ignaz und Joseph Zingerle: Kinder und Hausmärchen aus Süddeutschland

Der Ziegenhirt - Märchen von Ignaz und Joseph Zingerle: Kinder und Hausmärchen aus Süddeutschland


Der Ziegenhirt

Es war einmal ein armer Holzhacker, der lebte sehr sparsam mit seinem Weib und seinem Kind, denn nur mit der größten Anstrengung konnte er sich und den Seinigen den nötigen Lebensunterhalt verschaffen. Als er aber starb, härmte sich das Weib so ab, daß sie ihm bald nachfolgte und Hiesl, so hieß das Kind, ganz einsam und verlassen dastand. Nachdem er zwei Tage und zwei Nächte bei dem Grab seiner Eltern geweint hatte, machte er sich auf, um aus dem Wald zu kommen, den er früher noch nie verlassen hatte, und wollte durch Handarbeit sich das Notwendigste verdienen.

Da kam Hiesl an eine breite Straße, auf der er getrost weiterging, und gelangte nach langem Wandern in eine große, schön gebaute Königsstadt. Hier fragte er fast in jedem Haus, ob er Arbeit bekommen könnte, er verlange nichts als die notwendige Nahrung; aber überall wies man den zerlumpten, furchtsamen Knaben ab, so daß er traurig und hungrig jede Hoffnung aufgab, sich in einem abgelegenen Winkel verbarg und nach Herzenslust weinte.

Nachdem er so die ganze Nacht mit Weinen zugebracht hatte, raffte er sich am Morgen auf, um zum letzten Male zu versuchen, ob er nicht Arbeit bekommen könnte. Er ging auf ein großes, schönes Haus zu, worin der König wohnte, und fragte nach Arbeit, »Ja«, sagte man zu ihm, »wenn du die Ziegen hüten willst, so kannst du schon bleiben, sonst braucht man dich nicht.« Hiesl ging freudig auf den Vorschlag ein.

Als der König erfuhr, daß sich ein Ziegenhirt gemeldet hatte, war er herzlich froh, denn er glaubte nicht, daß noch einer kommen würde, da schon so viele ihr Leben beim Hüten eingebüßt hatten. Er ließ deshalb den Knaben zu sich rufen und sprach zu ihm: »Wenn du fleißig dein Geschäft verrichtest, so bekommst du eine neue Kleidung, gute Nahrung und am Ende eines jeden Jahres einen großen Lohn. Aber merke wohl, was ich dir sage. Die Ziege mußt du auf den Berg bei der Stadt treiben, wo das prächtige Schloß steht. Um das Schloß herum befinden sich schöne Gärten, Felder und Wiesen, die nur mit einem schwachen Zaun vom Wald getrennt sind, wo du die Ziegen hüten mußt. Diese darfst du aber nicht in die fetten Felder und Wiesen hinein- und darauf weiden lassen; wann dies geschehen sollte, wird der Herr des Schlosses, ein furchtbarer Riese, erscheinen und dich in viele Stücke zerreißen. Dieser beobachtet dich immer, nur eine kurze Zeit des Morgens ausgenommen, wenn er schläft.«

Nach diesen Worten entließ der König den Knaben.

Dieser war froh, einen Dienst erhalten zu haben, sprang sogleich in den Ziegenstall, um sich mit seinen Pflegebefohlenen vertraut zu machen. Er blieb den ganzen Tag bei ihnen, ja er schlief sogar im Stall, eine solche Freude hatte er an diesen Tierlein und so gerne hörte er ihr Meckern.

Morgens stand er in aller Frühe auf und trieb seine Herde froh und munter den Berg hinan, die nötigen Lebensmittel trug er in der Tasche. Vor dem Riesen hatte er keine Furcht; denn er nahm sich vor, die Ziegen weit vom Schloß weg in den Wald hineinzutreiben. Als er aber oben ankam, liefen alle zum Schloß hin – denn sie kannten die fetten Wiesen zu gut –, so daß Hiesl den ganzen Tag in einem Atem laufen mußte, um sie abzuwehren. Den Riesen sah er aber nicht.

Als er seine Herde nach Hause getrieben hatte, lobte ihn der König sehr, daß er so brav war, und gab ihm einen großen Taler. Die ganze Nacht hindurch ging aber dem Hiesl das Schloß samt dem Riesen nicht mehr aus dem Kopf; er wollte, er mußte alles sehen. Deshalb trieb er am anderen Tag in aller Frühe seine Ziegen auf den Berg, überließ sie ihrem Schicksal und schlich sich ganz heimlich ins Schloß. Aber wie erstaunte er über die Pracht und Herrlichkeit, die er im Schloß fand, wo Tür und Tor ihm offenstanden. Sein Auge wurde geblendet vom Schimmer des Goldes, des Silbers und dem Glanz der Edelsteine, die haufenweise dalagen, sowie von den blanken Rüstungen, die an den Wänden herum hingen. Er ging von einem Saal in den andern und fand endlich in einem den Riesen, auf einem Bett hingestreckt, im tiefen Schlaf; neben ihm befand sich seine herrliche Rüstung. Hiesl erschrak anfangs über das Ungeheuer mit seinem furchtbaren Gesicht; besann sich aber nicht lange, sondern ergriff mit beiden Händen das Schwert des Riesen und hieb ihm den Kopf ab.

Kaum hatte er diese Arbeit vollbracht, so stand ein kleines Männlein vor ihm, verneigte sich tief, begrüßte ihn als den Herrn des Schlosses samt allem, was darin und darum war, und fragte, was er befehle. »Jetzt will ich was Ordentliches zu essen und zu trinken«, war die Antwort.

Kaum hatte Hiesl das gesagt, so verschwand das Männlein, kehrte aber bald mit Speise und Trank zurück.

»Während ich mich hier nun sättige«, sprach Hiesl, »siehst du dich um meine Ziegen um; treib sie in die Schloßfelder herein und gib auch wohl acht darauf.«

Aber nicht bloß während des Essens und Trinkens mußte das Männlein die Ziegen hüten, sondern auch noch so lange, als Hiesl das Schloß besichtigte. Spätabends löste er erst das Männlein ab, das zu ihm sagte: »Wenn du meiner bedarfst, so stampfe nur in dem Zimmer, wo du den Riesen getötet hast, mit dem Fuß dreimal auf den Boden, und ich werde alsogleich zu Diensten stehen.« Darauf verschwand es.

Lustig und munter trieb Hiesl seine Herde nach Hause; doch er war klug genug, von seinem Abenteuer nichts auszuschwätzen. Täglich trieb er seine Herde auf den Berg, ging in sein Schloß, stampfte mit dem Fuß dreimal auf den Boden, das Männlein mußte ihm dann Essen und Trinken bringen und während des Tages die Ziegen hüten. Und so trieb er es längere Zeit fort; die Ziegen wurden fett, gaben sehr reichlich Milch, und der König war dem Hirten, der unterdessen bei guter Kost zu einem schönen, starken Jüngling herangewachsen war, wegen seines Diensteifers sehr gewogen.

Der König hatte eine wunderschöne Tochter, um deren Hand sich viele, aber immer umsonst beworben hatten; denn sie war sehr dem schönen Hirten in Liebe zugetan und hätte niemanden lieber geheiratet als ihn, wenn er nur von besserer Abkunft gewesen wäre. Weil sie deshalb keine Hoffnung hatte, ihren Wunsch je erfüllen zu können, verschmähte sie jeden Freier. Da jedoch der König einen Nachfolger wünschte, schrieb er ein großes Turnier aus, und jener Ritter, der drei Tage nacheinander die übrigen Bewerber aus dem Sattel heben würde, der sollte mit der Hand der Tochter auch den Thron nach des Königs Tod erhalten.

Alle Anstalten dazu wurden aufs beste getroffen, und mit Freude sah man allenthalben diesem Fest entgegen, nur die Königstochter war trauriger und in sich gekehrter als jemals zuvor.

Am Tag des Turniers, während der König mit seiner Tochter, den Rittern und Großen des Reiches nach dem Kampfplatz zog, trieb Hiesl, scheinbar ganz unbekümmert um alles, was vorging, seine Herde auf den Berg, trat aber schnell ins Schloß und forderte vom dienstbeflissenen Männlein, ihm alsogleich einen Schimmel und eine stahlblaue, kostbare Rüstung zu bringen.

Wie befohlen, so geschah es. Das Männlein brachte die verlangte Rüstung samt Helm mit wallendem Federbusch, ein Schwert und eine große Turnierlanze; im Hof stand ein mutiger Schimmel, kostbar geschirrt.

Hiesl rüstete sich mit Hilfe des Männchens und schwang sich auf den Schimmel, jagte den Berg hinab und erschien zum Erstaunen aller, spät und ganz unerkannt auf dem Platz. Auf der entgegengesetzten Seite stand der bisherige Sieger, den der Hiesl zum Kampf forderte. Dann legte er die Lanze ein, sprengte gegen ihn, warf ihn aus dem Sattel weithin in den Sand und sprengte unter allgemeinem Beifall durch die Stadt dem Schloß zu. Er war schon aller Augen entschwunden, bevor man vor Verwunderung imstande war, sich zu sammeln. Alles Nachforschen nach dem unbekannten Ritter war vergebens; denn dieser trieb spätabends in seiner gewöhnlichen Kleidung die Herde nach Hause.

Am zweiten Tag begann wieder das Turnier; Hiesl trieb wieder die Herde den Berg hinan und forderte eine silberne Rüstung samt einem Rappen, sprengte den Berg hinab in die Mitte des Kampfplatzes, warf den Sieger des Tages aus dem Sattel und jagte auf und davon, ohne von den Reitern eingeholt zu werden, die der König deshalb aufgestellt hatte. Auf Umwegen gelangte er ins Schloß.

Noch größer war an diesem Tag die Verwunderung des Königs, aber auch seine Betrübnis; die Tochter hingegen freute sich, weil sie dadurch die lästigen Freier loszuwerden hoffte. Am dritten und letzten Tag erschien Hiesl in einer goldenen Rüstung auf einem braunen Pferd. Auch diesmal stach er den Sieger des Tages aus dem Sattel, wurde aber von ihm an der Wade verwundet. Auch diesmal war das Verfolgen umsonst; er kam auf Umwegen und ungesehen ins Schloß. Als er aber seine Herde nach Hause trieb, hinkte er wegen der Wunde.

Der König erblickte ihn und ließ ihn zu sich rufen. »Was ist dir begegnet, daß du so hinkst?« fragte der König freundlich. Hiesl wollte mit der Sprache nicht heraus; aber durch die Bitten der Tochter wurde er endlich bewogen, daß er sein Abenteuer mit dem Riesen und die Vorfälle beim Turnier erzählte. Voll Freude fiel ihm die Königstochter um den Hals, denn jetzt war ja ihr Bräutigam derjenige, nach dem sie sich so herzlich gesehnt hatte.

Aber auch der König war voll Freude über einen so stattlichen Eidam. Unter frohen Festen, bei Musik und Tanz wurde die Hochzeit vollzogen. Lange noch lebte der König, und nach ihm herrschte viele Jahre der Ziegenhirt, geehrt von allen und bei seinem Tod tief betrauert.



(mündlich aus dem Zillertal)


Anzeigen