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Die geraubte Königstochter - Märchen von Theodor Vernaleken: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt


Die geraubte Königstochter

Es lebte einst ein mächtiger König, welcher eine ebenso reiche als schöne Gemahlin hatte. Diese gebar ihm ein Mädchen. Als aber der Tag der Taufe kam, wußte der König nicht, wen er zur Taufpathin nehmen solle. Da erschien am Vorabende eine weiße Frau, die sich hiezu antrug, und die Eltern nahmen das Anerbieten freudig an, denn sie dachten das Kind werde von der Zauberin reich mit Geistesgaben beschenkt werden. Sie fanden sich auch in ihren Hoffnungen nicht getäuscht, denn die Frau beschenkte das Kind verschwenderisch mit allem Erdenklichen. Zugleich gebot sie aber den Eltern, das Mädchen vor ihrem zwölften Lebensjahre nicht aus dem Zimmer gehen zu lassen, indem sie sonst unglücklich würde.

Das Mädchen war bereits eilf Jahre alt geworden, als sie an einem schönen Sommertage ihren Vater bat, ob sie nicht mit auf die Jagd gehen dürfe. Dieser konnte ihrem dringenden Bitten nicht widerstehen und willigte endlich ein. Doch kaum hatte sie das Zimmer verlassen, als sich draußen auf einem schönen geflügelten Pferde ein Mann zeigte, der sogleich das Mädchen ergriff und mit demselben sich in die Lüfte erhob. Der König rief um Hülfe, doch vergeblich, denn das Pferd war schon so hoch, daß er es kaum mehr bemerkte. Er ging nun zu seiner Gemahlin und berichtete ihr den Vorfall, über welchen beide höchst betrübt waren. Eines Abends kam die weiße Frau, welche das Unglück der Prinzessin erfahren hatte, zum König, um ihn wegen des Verlustes seiner Tochter zu trösten. Sie konnte zwar nicht helfen, da sie über den Teufel, von dem das Mädchen fortgeführt war, keine Macht hatte; doch gab sie den betrübten Eltern den Trost, daß ihre Tochter noch gerettet werden könne, wenn ein Jüngling unter zwanzig Jahren es wage, in die Hölle zu gehen und die drei Wasser des Lebens, der Schönheit und der Liebe zu holen; dadurch würden nebst ihrer Tochter noch zwei andere Prinzessinnen erlöst werden.

Der König ließ nun im Lande verkünden, daß derjenige, der seine Tochter aus den Händen des Teufels errette, dieselbe zur Gemahlin bekomme.

Lange Zeit meldete sich niemand. Endlich kam ein Bauernbursche und wollte sein Glück versuchen. Der König gab ihm viel Geld mit, damit er keine Noth zu leiden brauche. Der Bursche schritt rüstig vorwärts. Als er schon längere Zeit gewandert war, kam er zu einem alten Weibe, an dem man vor Runzeln kaum das Gesicht sah. Auf seine Frage, ob hier der rechte Weg zur Hölle sei, kreischte sie: »Was hast du denn dort zu thun, laß ab von deinem Vorhaben, denn der Teufel ist ein Menschenfresser und wird dich gewiß auffressen, wenn er dich erblick.« Der junge Bauer ließ sich jedoch nicht abhalten. Da gab ihm die Alte eine Ruthe, mit dem Bemerken: »Wenn du mit der rechten Hand damit herumhauest, können dir die wilden Thiere, die am Eingange der Hölle stehen, nichts anhaben.« Der Bauer bedankte sich und ging weiter. Da begegnete er einem Hahne, der ihn fragte, wohin die Reise gehe. Er erwiederte: »Ich will in die Hölle, um die geraubte Königstochter zu retten.« Der Hahn rieth ihm davon ab; als aber seine Bemühungen vergebens waren, so lud er ihn in seine Behausung ein, um dort einige Erfrischungen zu sich zu nehmen. Als sie in der kleinen Höhle ankamen, gab ihm der Hahn drei Federn, mit dem Bemerken: »Stecke sie auf den Hut und du wirst vor den Thieren in der Hölle sicher sein.« Der Bauer dankte und schritt, durch Erfrischungen gestärkt, rüstig vorwärts. Nach einiger Zeit kam er zu einer alten Frau. »Ist hier der rechte Weg zur Hölle?« fragte er, und sie bejahte es, gab ihm ein großes Schwert mit den Worten: »Das wirst du wohl gut brauchen können.« Sie fügte hinzu: »Wenn du zum Eingange der Hölle kommst, werden zwei Schlangen dich fragen, wer du seiest; darauf darfst du jedoch keine Antwort geben, sondern du schlägst jede der Schlangen mit deinem Stäbchen auf den Kopf. Sollten sie dir dann noch den Eintritt verwehren, so stecke eine von den drei Federn, die du von dem Hahne er halten hast, auf das Stäbchen und berühre damit die Zungen der beiden Schlangen, worauf sie zischend davoneilen werden.« Der Bauer dankte ihr und eilte, um die Hölle noch vor einbrechender Nacht zu erreichen.

Als er dort angekommen war, befolgte er genau den Rath der Alten. Es traf auch alles so ein. Er kam in einen langen, spärlich beleuchteten Gang, welcher mit den scheußlichsten Ungeheuern, mit Drachen und Schlangen erfüllt war. Diese konnte er nur durch das Umhauen mit dem Stäbchen von sich entfernt halten. Der Gang führte in einen großen Garten, in dessen Mitte ein Schloß stand, dessen Mauern verschwenderisch mit Gold und Silber verziert waren. Der Bauer wußte nicht, ob er stehen bleiben oder in das Schloß gehen sollte. Endlich entschloß er sich hinein zu gehen. Er war schon durch mehrere reich ausgestattete Zimmer gegangen, als er endlich zu einem kam, in welchem er Frauenstimmen hörte. Er ging hinein und bemerkte drei Prinzessinnen, die über sein Erscheinen höchlich erstaunt waren. Denen erzählte er, warum er gekommen sei. Darüber waren sie wohl sehr erfreut, sie fürchteten jedoch, daß er sein Ziel nicht erreiche; »denn der Teufel«, sagten sie, »geht auf Mädchenraub aus, hält uns schon lange Zeit gefangen, und dich wird der Menschenfresser nicht verschonen.« Alsdann verabredeten sie, es solle jede eine Nacht unter dem Strohsacke ihres Bettes ihn verbergen, da der Teufel bei Tage seiner gewöhnlichen Beschäftigung nachging. Als nun der Abend kam, verbarg ihn die eine unter dem Strohsacke ihres Bettes. Eben war sie damit fertig geworden, als der Teufel in Gestalt eines Drachen hereinkam und schrie: »Ich rieche Menschenfleisch; wenn ihr mir nicht sagt, wo es sich befindet, so fresse ich euch alle drei.« »O«, sagte die eine, »es ist ja die Wildbretkammer offen, und in dieser ist frischgeschossenes Wild, welches riecht.« Der Teufel ließ sich dadurch besänftigen, legte sich zu Bette und schlief die ganze Nacht. Als am andern Morgen der Teufel sich entfernt hatte, kroch der Bauer aus seinem Verstecke hervor, und die Prinzessinnen zeigten ihm alles, was im Schlosse zu sehen war. Am Abend versteckte ihn die zweite Prinzessin in ihrem Bette. Als der Drache nach Hause kam, schrie er wüthend: »Ich rieche Menschenfleisch.« »O, was denkst du«, sagten sie, »da drinnen ist ja ein frisch geschlachtetes Kalb, das verbreitet diesen Geruch.« So ward er wieder besänftiget. Am dritten Abend bot ihm die dritte Prinzessin ein Versteck an, und als der nach Hause kommende Teufel wieder Menschenfleisch roch, erwiederte sie: »Es ist nur die Einbrennsuppe, die verbrannt ist, und daher kommt der Geruch.« Der Teufel ließ sich abermals beschwichtigen, legte sich zu Bette, um des andern Morgens wieder seinen gewöhnlichen Geschäften nachzugehen.

Dadurch nun, daß der Bauer bei jeder der drei Prinzessinen eine Nacht zugebracht hatte, waren sie erlöst und sie entflohen mit einander. Der Bauer aber nahm mit sich die drei Wasser des Lebens, der Schönheit und der Liebe, wovon jede der Prinzessinnen eines aufzubewahren hatte. Sie setzten sich auf den Spazierwagen des Teufels und spannten sein geflügeltes Leibpferd an. Bei der Pforte fragten zwei Schlangen, wer sie seien, worauf sie jedoch keine Antwort gaben. Als sie einige Zeit in schnellem Trabe gefahren waren, kamen sie in einen Wald, in dem sie sich verirrten. Schon war es Nacht geworden, und es zeigte sich kein Ausweg. Endlich bemerkten sie ein großes Gebäude, welches aber die Prinzessinnen sogleich als den Lieblingsaufenthalt des Teufels erkannten, und daher für ihr Leben besorgt waren. Der Bauer verbarg sie jedoch in einer nahen Höhle und ging allein in das Haus, in der Hoffnung, den Drachen mittelst seines Schwertes erlegen zu können. Bei der Pforte bemerkte er eine Schlange, welche als Thorhüter diente. »Ist der Teufel zu Hause?« fragte er. Sie nickte, aber sie ließ ihn nicht hinein gehen. Da hieb er mit dem Schwerte ein und trennte den Kopf der Schlange vom Rumpfe. Kaum war dieß geschehen, so erschien der Teufel selbst vor der Thür, und es begann nun ein harter Kampf zwischen dem Teufel und dem Bauern. Dieser jedoch behielt die Oberhand, und schnell eilte er zu den Prinzessinnen, um ihnen die frohe Botschaft zu bringen, und sie waren darüber sehr erfreut. Sie wanderten nun weiter und erreichten bald die Hütte der alten Frau, von welcher der Bauer das Schwert erhalten hatte. Die Alte bat den Bauer, er möge ihr einen Tropfen vom Wasser des Lebens schenken. Das that er auch. Sie benetzte mit diesem Tropfen ihr Gesicht und erschien nun dem Bauern als Jungfrau. Gleichzeitig fing es heftig an zu donnern und zu blitzen, und an der Stelle der Hütte zeigte sich ein herrliches Schloß. Die Jungfrau dankte für ihre Erlösung und bewirtete ihn nebst seinen drei Begleiterinnen auf's beste. Des anderen Tages setzten sie die Reise fort und erreichten des Abends die Wohnung des Hahnes. Dieser war über die Erlösung der drei Prinzessinnen höchst erfreut und bat den Bauern, er möge nun auch ihm zur Erlösung verhelfen; das könne dadurch geschehen, daß er die drei Federn, die er einst von ihm erhalten, an den Stellen, wo sie fehlen, wieder befestige. Und das geschah. Kaum war er damit fertig, als es heftig knallte; an der Stelle der ärmlichen Wohnung des Hahnes stand ein Schloß, und der verwunschene Hahn erschien als Prinz. Er dankte ebenfalls für seine Erlösung, und der Bauer wanderte dann mit den drei Prinzessinnen wieder weiter und erreichte bald die Hütte der alten Frau, welche ihm das Stäbchen gegeben hatte. Auch diese erlöste er, indem er die vier Ecken ihrer Wohnung berührte. Auf einmal stand ein herrliches Schloß da, und die Alte zeigte sich als junge Prinzessin.

Am nächsten Tage erreichten sie die Wohnung des Königs. Wie der eine Freude hatte, läßt sich gar nicht sagen. Sogleich wurden Anstalten zur Hochzeit getroffen. Auch die weiße Frau war unter den Hochzeitsgästen. Die zwei andern von dem Bauern erlösten Prinzessinnen kehrten ebenfalls heim zu ihren Eltern.


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