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Makunaima und Pia - Märchen von Theodor Koch-Grünberg: Indianermärchen aus Südamerika


Makunaima und Pia

Vor langer Zeit lebte eine Frau, die war schwanger geworden durch die Sonne mit Zwillingskindern, Makunaima und Pia. Eines Tages sagte der noch ungeborene Pia zu seiner Mutter: »Laß uns gehen und unseren Vater besuchen! Wir werden dir den Weg zeigen. Pflücke für uns jede hübsche Blume, an der du vorbeikommst!« Daraufhin ging sie nach Westen, um ihren Gatten zu treffen.

Indem sie hier und dort am Wegrand Blumen pflückte, strauchelte sie, fiel hin und verletzte sich. Deswegen schalt sie auf ihre beiden ungeborenen Kinder. Diese wurden ärgerlich darüber, und als sie das nächste Mal fragte, welchem Weg sie folgen sollte, weigerten sie sich, es ihr zu sagen. So kam es, daß sie die falsche Richtung einschlug und endlich müde und mit wunden Füßen an einem sonderbaren Hause ankam. Es gehörte Kono(bo)-aru, dem Regenfrosch, der Mutter des Tigers. Als die erschöpfte Frau entdeckte, wo sie war, sagte sie der alten Frau, es täte ihr sehr leid, daß sie hierhergekommen sei, denn sie habe oft gehört, wie grausam ihr Sohn sei. Die Herrin des Hauses hatte Mitleid mit ihr. Sie redete ihr zu, sich nicht zu fürchten, verbarg sie in dem großen Kaschiri-Trog und deckte den Deckel darauf. Als der Tiger am Abend heimkam, schnüffelte er hin und her und sagte: »Mutter, ich rieche jemand. Wen hast du hier?« Obgleich sie es leugnete, irgend jemand im Hause zu haben, war er nicht zufrieden. Er begab sich selbst auf die Suche, guckte auch in den Kaschiritopf und entdeckte dort das geängstigte Geschöpf.

Er tötete die arme Frau, fand die beiden ungeborenen Kinder und zeigte sie seiner Mutter. »Die mußt du nun hegen und pflegen!« sagte sie. Da steckte er sie in ein Bündel Baumwolle, um sie warmzuhalten, und bemerkte am nächsten Morgen, daß sie schon anfingen zu kriechen. Am nächsten Tage waren sie schon viel größer, und bei dieser täglichen Zunahme hatten sie in einem Monat die Größe von Männern erreicht. Die Mutter des Tigers sagte ihnen, daß sie nun imstande wären, Bogen und Pfeile zu gebrauchen, und daß sie den Hokko schießen müßten, denn dieser Vogel habe ihre Mutter getötet.

Daher machten sich Pia und Makunaima am folgenden Tage auf und schossen Hokkohühner, und Tag für Tag schossen sie diese Vögel. Als sie im Begriff waren, den Pfeil auf den letzten Vogel fliegen zu lassen, sagte ihnen der Hokko, daß keiner seines Stammes ihre Mutter getötet hätte, sondern der Tiger selbst, und erzählte ihnen alle Einzelheiten ihres Todes. Die zwei Knaben waren sehr böse, als sie dies hörten, verschonten den Vogel und sagten der Alten, als sie mit leeren Händen heimkamen, der Hokko hätte ihnen ihre Pfeile weggenommen. Dies war natürlich nicht wahr, sondern nur eine Ausrede. Sie hatten selbst ihre Pfeile im Walde verborgen und beabsichtigten, neue und stärkere Waffen zu machen. Als diese fertig waren, bauten sie einen Jagdschirm an einem Baum, und als der Tiger unten vorbeiging, schossen sie auf ihn und töteten ihn. Dann gingen sie nach Hause und erschlugen auch seine Mutter.

Die zwei Burschen setzten nun ihren Weg fort und kamen endlich zu einer Gruppe Baumwollsträucher, in deren Mitte ein Haus stand. Hier wohnte eine sehr alte Frau, die eigentlich ein Frosch war, und bei ihr schlugen sie ihren Wohnsitz auf. Sie gingen jeden Tag zum Jagen, und bei ihrer Rückkehr fanden sie regelmäßig eine Menge Kassawa, die ihre Wirtin gebacken hatte. »Das ist sehr merkwürdig,« bemerkte Pia zu seinem Bruder, »hier ist nirgends ein Feld zu sehen, und nun sieh diese Menge Kassawa, die uns die alte Frau gibt! Wir müssen sie beobachten!«

Am nächsten Morgen gingen sie anstatt zum Jagen in den Wald, nur in eine geringe Entfernung vom Haus und verbargen sich hinter einem Baum, von wo aus sie sehen konnten, was im Hause vorging. Sie sahen, daß die alte Froschfrau einen weißen Fleck an ihren Schultern hatte; sie sahen, wie sie sich bückte und an diesem Fleck kratzte, und wie das Kassawa- Mehl herausfiel. Nach Hause zurückgekehrt, weigerten sie sich, den gewöhnlichen Kuchen zu essen, dessen Quelle sie nun kannten. Am nächsten Morgen pflückten sie eine Menge Baumwolle von den benachbarten Sträuchern und breiteten sie auf dem Boden aus. Als die Alte fragte, wozu sie das täten, sagten sie, daß sie ihr ein nettes, weiches Lager bereiteten. Erfreut darüber, setzte sie sich sogleich darauf nieder. Aber kaum saß sie, als die Burschen Feuer daran legten. Davon wurde die Haut der Alten so furchtbar verbrannt, daß sie das runzelige und rauhe Aussehen erhielt, das sie bis auf den heutigen Tag hat.

Pia und Makunaima reisten nun weiter, um zu ihrem Vater zu gelangen, und kamen bald an das Haus des Tapirs, wo sie drei Tage blieben. Am dritten Abend kam der Tapir zurück und sah sehr glatt und rund aus. Die Knaben wollten gern wissen, was er gefressen habe und folgten seinen Spuren bis zu einem Pflaumenbaum. Diesen schüttelten sie so heftig, daß alle Früchte, reife wie unreife, zu Boden fielen, wo sie verstreut liegen blieben. Als der Tapir am nächsten Morgen zum Futterplatz kam, war er empört. Schnell kehrte er nach Hause zurück, schlug die beiden Knaben und lief davon in den Wald. Die Knaben machten sich auf, ihn zu verfolgen und folgten ihm manchen Tag. Endlich erreichten sie ihn. Da befahl Pia dem Makunaima, vorwärts zu laufen, den Tapir zu ihm zurückzutreiben und im Vorbeilaufen einen Harpunenpfeil abzuschießen. Makunaima verwickelte sich jedoch, als er nach vorn lief, in der Schnur, und sie schnitt ihm ein Bein ab.

In klaren Nächten kann man sie am Himmel sehen: Dort ist der Tapir (Hyaden), dort Makunaima (Plejaden) und darunter sein abgeschnittenes Bein (Gürtel des Orion).


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