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Die Frau, die vom Gespenst ihres Mannes getötet wurde - Märchen von Theodor Koch-Grünberg: Indianermärchen aus Südamerika


Die Frau, die vom Gespenst ihres Mannes getötet wurde

Einst machte sich eine Gesellschaft von Arowaken auf zum Berbice, und unterwegs wurden sie alle ermordet. Es waren lauter verheiratete Männer. Ihre Frauen hatten sie zurückgelassen am Pomeroon. Die Frauen nahmen alle andere Männer, außer einer. Diese war so traurig über den Verlust ihres Mannes, daß sie keinen anderen haben wollte. Sie fand Trost in ihren zwei kleinen Kindern.

Nach einiger Zeit begab es sich, daß das ganze Dorf zu einem Trinkfest zog, nur die Witwe blieb allein zurück. Als die Nacht hereinbrach, hörte sie vom Fluß her Flöte blasen. Der Ton kam näher und näher. Sie erkannte die Weise ihres Gatten und sagte zu ihrem Kinde: »Diese Melodie pflegte dein Vater zu spielen. Vielleicht wurde er allein gerettet, als alle anderen getötet wurden.«

Tatsächlich war es das Gespenst des Mannes, das versuchte, nach Hause zu kommen. Nachdem der Geist die Landungsstelle erreicht hatte, band er sein Boot an und kam herauf zum Hause, wo die Frau ihn erkannte.

Er sagte: »Guten Tag!« und fragte, ob es ihr gut gehe und erkundigte sich nach den beiden Kindern. Darauf bat er sie, seine Hängematte aufzuspannen, denn er sei krank zurückgekommen. Als er in seiner Hängematte lag, begann er ihr genau alles zu berichten, was geschehen war, wie er mit all den anderen getötet wurde. Nach einiger Zeit sagte er: »Geh und hole Licht! Es müssen viele Flöhe hier sein. Sie beißen mich schrecklich in den Rücken.« Aber anstatt Flöhe waren es Würmer, die in ihm nagten, und als die Frau mit einem Feuerbrand kam, konnte sie sie heraus- und hereinkriechen sehen. Sie sagte: »Nein, nein, es sind keine Flöhe da!«

Da sie nun all die Würmer gesehen hatte, wußte sie, daß es ihres Mannes Gespenst sein müsse und nicht sein Körper, der zurückgekommen war. Es war ein Zeichen für sie, daß etwas geschehen würde.

Wieder und noch ein drittes Mal bat er sie, ihm die Flöhe abzusuchen, aber sie bestand auf ihrem: »Nein, nein, es sind keine Flöhe da.«

Unterdessen überlegte sie, wie sie sich retten könne. Sie fing an zu spucken und spuckte immer auf dieselbe Stelle, bis dort eine kleine Lache von Speichel war. Dann schlüpfte sie leise zum Hause hinaus und lief der nächsten Ansiedlung zu.

Als das Gespenst sie nun wieder bat, die Flöhe zu fangen, antwortete der Speichel: »Nein, nein, es sind keine Flöhe da!« Und so wiederholten sich Frage und Antwort. Aber als der Speichel endlich eingetrocknet war, konnte er nicht mehr sprechen, und sobald das Gespenst keine Antwort bekam, stieg es aus der Hängematte und folgte den Spuren der Frau.

Der Feuerbrand, den sie trug, war erloschen. Sie lief weiter im Dunkeln, der Geist laut rufend hinter ihr her. Als er immer näher kam, erinnerte sie sich an ein altes Gürteltierloch. Darin verbarg sie sich, während der Geist vorbeieilte. Er bemerkte jedoch bald, daß sie ihn überlistet hatte, und kehrte zu der Stelle zurück, wo sie so plötzlich verschwunden war. Dort blieb er stehen und sann nach, und sie hörte ihn vor sich hin sagen: »Ich bin tot. Aber obgleich ich tot bin, suche ich sie, und ich werde sie auch bald töten.« Damit verlor sie ihn in der Dunkelheit aus den Augen.

Sie kroch hervor aus ihrem Versteck, erreichte die nächste Ansiedlung und erzählte ihren Freunden alles, was geschehen war. Und was der Geist gesagt hatte, wurde wahr. Sie wurde bald krank und starb.


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