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Der Stinkkäfer - Märchen von Ignaz und Joseph Zingerle: Kinder und Hausmärchen aus Süddeutschland


Der Stinkkäfer

Vor langer, langer Zeit lebte ein armer Knabe, der eine böse Stiefmutter hatte. Sie war ihm so feindlich gesinnt, daß er ihr nichts recht machen konnte und alle Tage Scheltworte und Schläge bekam. Einmal gab sie dem guten, armen Kind einen großen Korb und sprach: »Mach dich, kleiner Darm, gleich in den Wald hinaus und suche Moosbeeren, und bringst du den Korb nicht voll zurück, so sollst du Schläge bekommen, daß dir die Rippen krachen.«

Der arme Bursche nahm den Korb und lief mit weinenden Augen in den grünen Wald hinaus, denn er sah wohl, daß er, wenn er zehn Hände statt einer hätte, so viele Moosbeeren nicht pflücken könnte, und fürchtete sich vor den gedrohten Schlägen gar sehr. Im Wald kroch er von einer Staude zur andern und pflückte nach Leibeskräften. Allein er sah nur immer deutlicher, daß er den Korb nicht werde voll machen können. Er hatte schon einige Stunden gearbeitet, und die Sonne brannte gar heiß nieder. Da fing der Knabe an schläfrig zu werden vor lauter Hunger und Müdigkeit. Er sank ermattet in das Moos und begann zu schlafen, daß es eine Lust war. Die Sonne wollte schon Abschied nehmen, als der Knabe seine Augen aufschlug und mit Schrecken sah, daß es schon Abend war. Um wieviel größer war aber sein Schrecken, als ein winziges Männlein in einem grünen Röcklein vor ihm stand und ihm mit seinen kleinen, stechenden Augen fest und steif ins Gesicht schaute. Als der Zwerg den Knaben so erschrocken sah, redete er ihm freundlich zu und fragte ihn, was er hier mache.

»Ja, ich muß hier Moosbeeren pflücken, den ganzen Korb voll«, erwiderte stotternd der Knabe, »und wenn er nicht voll wird, bekomme ich Schläge, denn die Mutter ist gar so streng zu mir.«

»Sei getröstet«, sprach das Männlein und fing an, Moosbeeren zu pflücken, daß der Korb im Augenblick voll war. Dann gab er dem Knaben ein Schächtelchen mit den Worten: »Du bist ein braver Bub; bleibe so, und es soll dir nichts Übles zustoßen. Nimm das Schächtelchen, doch öffne es erst in der größten Not, wenn du sonst keinen Ausweg mehr siehst, und es wird dir geholfen werden.«

Der Knabe versprach es dem alten Männlein, griff freudig nach dem Schächtelchen und dankte dafür, wie brave Kinder es tun. Kaum war dies geschehen, so war das Waldmännlein auch verschwunden. Der arme Bursche steckte das Schächtelchen behutsam ein, nahm den vollen Korb auf den Rücken und wanderte froher als je seiner väterlichen Hütte zu, denn er hatte ja einen Helfer in seiner Tasche. Als er müde und vom Schweiß triefend heimkam, stand seine böse Stiefmutter schon auf der Türschwelle und wollte ihn mit Scheltworten empfangen. Wie sie aber den vollen Korb sah, bekam sie Respekt vor dem Buben und machte ein süßes Gesicht. Seit diesem Tage quälte sie den Knaben nicht mehr so sehr und gab ihm oft freundliche Worte. In der Tat haßte sie das arme Kind doch wie früher und wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, ihn loszuwerden. Der Knabe hatte nun glückliche Tage und sah wohl oft, wenn er allein war, das Schächtelchen an, öffnete es aber nie, denn er hatte es ja dem Männchen versprochen, und Hilfe war ihm auch gerade nicht nötig. So ging es einige Wochen.

Da kam einmal ein unbekannter Mann ins Dorf, und dieser hatte ein wunderliches Pfeiflein. Wenn er damit pfiff, mußten ihm alle Kinder, die nicht gesegnet waren, nachlaufen, und niemand konnte sie mehr von dem geheimnisvollen Pfeifer befreien. Wie der Hansl das Pfeiflein hörte, schoß es ihm auch in die Füße, daß er mitlaufen mußte, denn die böse Mutter hatte ihn absichtlich nie gesegnet. Der Mann ging pfeifend voraus, ein großer, großer Haufen ungesegneter Kinder folgte ihm. Der Zug ging durch das Dorf dem Wald zu, wo ein kahler, grauer Berg aufragte. Als sie dort angekommen waren, tat der Mann einen lauten Pfiff, und der hohle Berg öffnete sich. Die armen Kinder mußten in den finsteren Schacht hinein, und hinter ihnen schloß sich polternd die Öffnung des Felsens.

Da hättest du die armen Kinder sehen sollen! Von aller Welt verlassen befanden sie sich im stockfinsteren Berggewölbe, wohin nie ein Sonnenstrahl drang, und wußten nicht, was mit ihnen geschehen würde. Sie weinten und jammerten, daß es ein steinernes Herz hätte rühren mögen; doch alles war umsonst.

So ging es drei Tage und drei Nächte, und Hansl weinte und klagte mit den übrigen Kindern. Am vierten Tag fiel ihm endlich ein, daß er ja das Schächtelchen noch ungeöffnet bei sich habe und daß ihm dieses vielleicht helfen könnte.

Gedacht, getan! Mit der größten Vorsicht nahm er das Geschenk des Zwergleins aus seinem Sack und öffnete es behutsam. Wie fühlte er sich aber in seinen Erwartungen getäuscht, als er bemerkte, daß ein ganz gewöhnlicher Stinkkäfer daraus hervorkroch, der endlich summend und brummend aufflog und bald da, bald dort surrend anprallte. So war er längere Zeit herumgesurrt, als er sich auf den Boden niederließ, die Erde aufwühlte und endlich ein kleines, kleines Schlüsselein fand, das er dem Hansl brachte. Dieser war darüber nicht wenig erfreut, nahm das Schlüsselchen und tastete an allen Ecken und Wänden herum, um ein Schlüsselloch zu finden. Er hatte wohl schon lange herumgesucht, als er endlich ein kleinwinziges Schlößlein fand, in das der Schlüssel gerade paßte. Er steckte ihn an, drehte ihn herum, und es sprang eine bisher nicht bemerkte Pforte auf. Welche Freude hatten da die armen Kinder, als das goldene Tageslicht in den hohlen Berg fiel und sie einen Ausgang sahen. Froh und munter eilten sie der Tür zu und ins Freie.

Da war aber eine ihnen ganz unbekannte Gegend, die sich durch Schönheit und Anmut auszeichnete, fette Wiesen und kühle Wäldchen mit riesigen Eichen und Buchen, und zwischendurch rieselten und murmelten spiegelklare Bächlein. Die schönsten Blumen hoben ihre bunten, duftenden Kelche empor, und die prachtvollsten Schmetterlinge flatterten durch die laue, würzige Luft. Die Kinder kannten nun kein Ende der Freude, und das eine lief dahin, das andere dorthin.

Hansl, der seinen Stinkkäfer wieder in das Schächtelchen gesteckt hatte, ging allein auf einem Steig, der sich durch ein Wäldchen schlängelte, fort und dachte nach, was er nun anfangen sollte, denn er hatte wenig Lust, wieder nach Hause zurückzukehren.

Als er eine gute Strecke gegangen war, sah er plötzlich ein großes, prächtiges Schloß vor sich stehen. Es ragte mit seinen Türmen und Zinnen hoch über die riesigen Bäume empor, die es umgaben. Um das Gebäude zog sich ein herrlicher Garten mit grünen, stolzen Bäumen, leuchtenden Blumen und rauschenden Springbrunnen. Hansl konnte sich lange nicht an all dieser Pracht und Herrlichkeit satt sehen. Als er alles lange Zeit angegafft hatte, dachte er sich, ich muß doch schauen, wie es drinnen ausschaut. Er suchte nun einen Eingang, aber all sein Suchen war vergebens, denn nirgends fand er eine Tür oder ein Gitter. Er ging noch einmal um das Schloß herum und konnte gar nicht begreifen, wie man ein Haus ohne Aus- und Eingang bauen konnte. Wie er so dastand und schaute, hörte er plötzlich eine Stimme rufen: »Wenn du den Schlüssel findest, gehören dir Schloß und Hof.«

Da war der Junge nicht verlegen und nahm zu seinem Schächtelchen Zuflucht. Der Käfer wurde losgelassen, und das kluge Tierlein flog und surrte herum, bis es sich endlich auf dem Boden niederließ, die Erde aufgrub und dort einen goldenen Schlüssel fand. Hansl war über diesen Fund nicht wenig erfreut und suchte nun am Turm hin und her, bis er das Schlüsselloch sah. Da steckte er lustig den Schlüssel an, drehte ihn herum, und im Nu war das Tor offen. Da hättest du dabeisein und all die Pracht und Herrlichkeit im Schloß sehen sollen. Und da gab's einen Jubel und eine Freude, daß dem Hansl Sehen und Hören verging.

Als er so dastand und vor Staunen nicht zu sich kommen konnte, kam ein alter König auf ihn zu, und dieser führte eine wunderschöne Prinzessin an seiner Hand. Der alte König umarmte den Hansl und dankte ihm für seine Erlösung und die Erlösung seiner Tochter und seiner Leute. Dann bot er ihm seine Tochter zur Frau und das reiche Königreich zur Erbschaft an. Da besann sich Hansl nicht lange, ging darauf ein, und es wurde noch am selben Tag Hochzeit gehalten. Der König aber war kein anderer als der Stinkkäfer, in den er von einer bösen Hexe verwandelt worden war.



(mündlich aus Absam)


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