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Vom hörnenen Manne - Märchen von August Schleicher: Litauische Märchen, Sprichworte, Rätsel und Lieder


Vom hörnenen Manne

Es war einmal ein Mensch, der hatte drei Kälber, und mit den Kälbern gieng er durch einen Wald und begegnete einem andern, der hatte drei Hunde, der sagte ›Tauschen wir, ich gebe dir die drei Hunde und du gibst mir die drei Kälber; die Hunde werden dir aus jeder Not helfen.‹ Da tauschten sie. Der Eine zog mit seinen Hunden weiter und kam an ein Haus und gieng da hinein, fand aber keinen Menschen, und wie er sich umsah, da erblickte er in der Stube eine Flinte, einen Säbel und eine Flasche. Die Flasche öffnete er und versuchte sich etwas auf den Finger zu gießen, um zu sehen, was darin sei. Wie er nun etwas auf den Finger goß, da überzog sich der Finger mit dem Öle und ward wie Horn, und er konnte weder mit dem Meßer noch mit dem Säbel das Horn abschneiden. Da nahm er das Öl aus der Flasche und wusch sich damit am ganzen Leibe; da ward er am ganzen Leibe wie Horn. Flasche, Flinte und Säbel nahm er mit und kam in eine Stadt, die war ganz mit schwarzem Scharlach ausgeschlagen. Da gieng er ins erste Haus zum Zöllner und fragte, weshalb die Stadt so schwarz ausgeschlagen sei. Der sagte ›Das ist deswegen, weil der König jedes Jahr eine seiner Töchter einem Drachen geben muß, und jetzt wird der König wiederum um eine Tochter kommen‹. Und die Tochter war schon gebunden, denn am folgenden Tage hätten sie sie hinaus führen müßen. Da gieng der Mensch mit den Hunden zum Könige und sagte, er werde seine Tochter vom Drachen erlösen; und der König versprach ihm die Tochter zur Frau zu geben, wenn er sie befreien werde. Sodann gieng er auf den Berg, auf welchen der Drache zu kommen pflegte. Da lag ein großer Stein: den Stein bestrich er mit jenem Öle. So oft aber der Drache her flog, pflegte er sich auf diesen Stein zu setzen und des Wagens zu harren, auf welchem man die Königstochter hinaus fuhr. Als nun dießmal der Wagen heran kam und nicht mehr weit vom Drachen war, da wollte er sich erheben, aber er hob den ganzen Stein mit sich in die Höhe. Da ließ der Drache vor Wut eine zwölf Klafter lange Lohe aus seinem Rachen gehen. Der Mann aber stieg vom Wagen und hieb dem Drachen mit dem ersten Hiebe fünf Häupter ab und mit dem zweiten eben so viele, und mit vier Hieben hatte er ihm seine zwölf Häupter sämmtlich abgehauen: da wars mit dem Drachen alle. Jetzt band der Mann das Fräulein los und fuhr mit ihr heimwärts. Während des Fahrens schlief er aber ein, denn er war sehr müde geworden von der großen Arbeit. Als er nun eingeschlafen war, da wollte ihn der Kutscher ermorden, und als das Fräulein schreien wollte, drohte er sie mit dem Säbel zu erstechen. Sodann nahm er jenen Mann, warf ihn aus dem Wagen und grub ihn ein. Dem Fräulein aber sagte er ›Schwörst du mir nicht, daß ich dich erlöst habe, so ersteche ich dich auch.‹ Da schwur sie ihm, daß er sie vom Drachen erlöst und daß sie ihn zu heiraten habe.

Aber die drei Hunde legten sich auf den Grabhügel, unter welchem der hörnene Mann begraben war. Da kam ein Mensch mit einem Spaten; da gruben die Hunde fort und fort mit den Pfoten in die Erde, und als der Mensch das sah, fieng er auch an zu graben und grub den hörnenen Mann aus, und wie er ihn ausgegraben und ihn betrachtet hatte, fand er, daß er schlafe. Da weckte er ihn und sprach zu ihm ›Warum kriechst du lebend in die Erde?‹ Jener aber wuste jetzt nicht, wo er war. Er gieng nun allein in die Stadt, schrieb einen Brief, wickelte den Brief in ein Schnupftuch des Fräuleins, band es einem der Hunde um den Hals und sandte ihn zum Könige, wo bereits die Hochzeit des Kutschers und des Fräuleins vor sich gieng. Der Hund kam hin, näherte sich dem Fräulein und legte seinen Kopf auf ihre Knie; da bemerkte sie, daß das ihr Schnupftuch sei, und fand den Brief und erfuhr so, daß jener Mann noch am Leben sei. Da schrieb sie ihm auch einen Brief und band den Brief in dasselbe Schnupftuch und sandte ihn durch denselben Hund hin. Wie er sah, daß die Stadt jetzt mit rotem Scharlach ausgeschlagen war, da sprach er wie der bei jenem Zöllner ein und fragte, weshalb die Stadt so rot ausgeschlagen sei. Der sagte ihm ›Ein Kutscher hat eben des Königs Tochter vom Drachen befreit und da gibt sie ihm der König zur Frau.‹ Da gieng er schnell zum Könige, und wie er hin kam, machte er sich in die Nähe des Fräuleins und fragte sie ›Wer von uns hat dich befreit, ich oder der Kutscher?‹ Sie erwiderte ›Du,‹ und erzählte ihm alles, wie er eingeschlafen sei und wie sie dem Kutscher habe schwören müßen. Jetzt sann sie nach, wie sie die Sache klug angreifen könne und gieng hinein und sprach zu allen Anwesenden ›Ich verlor einmal den Schlüßel meines Schrankes und ließ mir einen neuen machen, aber jetzt habe ich den alten Schlüßel wieder: welcher Schlüßel wird nun der beßere sein, der alte oder der neue?‹ Da sagten alle ›Der alte ist beßer;‹ und so sagte auch der Kutscher. Da gieng sie hinaus, führte den hörnenen Mann mit sich in die Stube, wo alle Hochzeitsleute waren, und sagte ›Das ist mein alter Schlüßel, den ich verloren hatte.‹ Da sahen alle, was das für ein Schlüßel sei, aber der Kutscher erschrak sehr. Da sagte sie ›Der hat mich befreit, nicht du.‹ Und sie ergriffen den Kutscher und ließen ihn umbringen.


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