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Fioravanti - Märchen von Heinrich Zschalig: Die Märcheninsel. Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen von Capri


Fioravanti

Es war einmal ein alter König. Der hieß Fiorelli. Die Welt pries ihn glücklich. Und doch war er's nicht. Besonders das eine schmerzte ihn: Er hatte keine Kinder. Auch die Königin war darüber betrübt. Obgleich sie aber beide schon ziemlich bejahrt waren, gaben sie die Hoffnung auf den erwünschten Ehesegen nicht auf und ließen, nicht nach, Gott um einen Thronerben zu bitten, bis er ihr Gebet erhörte und ihnen einen Sohn schenkte, den sie Fioravanti nannten.

Man durfte wohl Großes von ihm erwarten: Er war hochbegabt und genoß die beste Erziehung, die einem Königssohn zuteil werden kann. Als er 17 Jahre alt war und sich schon alle Künste und Wissenschaften angeeignet hatte, sollte er nun auch die Fechtkunst erlernen.

Da ging der König zum Herzog Salardo, dem berühmtesten Fechter der Welt. Der war jedoch sehr stolz und bedenklich: »Du willst,« sprach er, »mir deinen Sohn anvertrauen. Aber du weißt wohl, daß er ein wenig abenteuerlich und übermütig ist. Wenn er mich etwa einmal beleidigen sollte, so müßte ich mich mit dem König von Spanien verbünden und dir den Krieg erklären«; worauf der alte König, der seinen Sohn sehr streng hielt, zuversichtlich erwiderte: »Er wird es nicht wagen, dich zu kränken. Sollte es aber doch geschehen, so werde ich dir volle Genugtuung verschaffen.«

Da ließ sich der Herzog bereden, und der Prinz erlernte bei ihm auch die feinsten Kniffe und Finten der Fechtkunst.

Als nun eines Tages der Herzog mit ihm in einem Zelte schlief und schnarchte, äußerte Fioravanti: »Dieser alte Graubart läßt mich nicht schlafen, ich muß ihm einen Schabernack spielen.« Und er schnitt ihm den schönen langen Bart ab.

Wie der Herzog beim Erwachen diese Beschimpfung gewahrte, lief er zum König und rief grimmig: »Sieh, welche Schmach mir dein Sohn angetan hat!« Der König verurteilte den Frevler ohne weiteres zum Tode: er sollte auf dem Waffenplatze vor allem Volke gehängt werden! In drei Tagen sollte das Urteil vollstreckt werden, und niemand durfte um seine Begnadigung bitten. Die Königin war gerade verreist gewesen, und als sie zurückkehrte, sah sie, wie er mit verbundenen Augen abgeführt wurde. Sie erkannte ihn aber nicht. Da vernahm sie mitleidige Stimmen: »Ah, die Königin! die Königin!«

»Wer ist jener beklagenswerte Jüngling?« fragte sie teilnahmsvoll. Das hörte der Unglückliche und erkannte die Stimme der Mutter. »Ach, liebe Mutter, siehe, wohin mich mein Übermut führt!«

Schmerzerfüllt eilt sie zum königlichen Gemahl, seine Gnade anzurufen. Aber all ihre Bitten und Vorstellungen vermögen des Königs Herz nicht zu rühren, rauh stößt er die demütig vor ihm Knieende zurück. – Da wendet sie sich an den Herzog, dessen Verzeihung und Fürsprache sie gewinnt, indem sie seiner Tochter den Sohn zum Gatten verspricht.

Der Herzog begab sich zum König. Doch dieser erklärte: »Ich habe als König gelobt, in den drei Tagen, die er noch zu leben hat, auf keine Fürbitte zu hören und keine Gnade zu üben.« – »Ich komme auch nicht,« entgegnete der Herzog, »um Gnade zu flehen, sondern, um Gnade zu gewähren! Ich verzeihe dem Prinzen seinen Jugendstreich und hieße ihn, wäre er meiner Tochter gewogen, gern als Eidam willkommen.« – »Dann bleibe ihm der Galgen erspart! Aber das Königreich muß er verlassen, daß man ihn nie wieder an unserem Hofe erblicke!«

In prächtiger Rüstung zog nun, von der Mutter ausgestattet, Fioravanti mit seinem guten Schwerte auf stattlichem Streitrosse von dannen. Ein einziger Diener, namens Runzio, begleitete ihn auf einem Esel. Als sie an einer Kirche vorbeikamen, legte Fioravanti Rüstung und Waffe auf den Sattel des Rosses und trat fromm in das Gotteshaus, um zu beten. Wie er aber zur Kirchtür heraustrat, war das Reitpferd samt Rüstung und Diener verschwunden, und nur der an die Mauer gebundene Esel begrüßte ihn mit einem vernehmlichen »Jaa!« –

Im Walde gelangte der Diener an die Zelle eines Einsiedlers, an dessen Tür er klopfte. Dieser merkte aber sofort, daß er einen Schurken vor sich hatte, denn der Harnisch war ihm viel zu groß, so daß er sich kaum darin zu bewegen vermochte. »Du hast das Pferd und die Rüstung gestohlen. Du bist ein Räuber. Übergib mir den Raub, daß ich ihn dem Eigentümer wieder zustelle!« Und nachdem der bestürzte Runzio alles richtig ausgeliefert hatte, knüpfte der starke Einsiedler den Frevler an einen Baum.

Nach einigen Stunden erschien Fioravanti auf dem Esel. Als er jedoch dem Einsiedler sein Mißgeschick erzählen wollte, rief dieser lächelnd: »Nicht nötig! Ich weiß alles.« Er führte ihn in den Garten: »Hier steht Euer Pferd mit der Rüstung, und dort hängt am Baum der Dieb.« Zur Erfrischung bot er ihm Quellwasser mit Brot, das er selbst an der Sonne gebacken hatte, wie es wohl in Tripolis üblich ist. Mit herzlichen Dankesworten verließ Fioravanti den wackeren Waldbruder.

Im Königspalast lebte ein tapferer Ritter, Rizieri mit Namen, der den Prinzen sehr lieb hatte und sein Schicksal aufrichtig bedauerte, zumal er erfuhr, daß der Verbannte die Stadt mit bloß einem zweifelhaften Diener verlassen hatte. Ohne sich nur einen Augen blick zu besinnen, legte Rizieri seine Rüstung an und eilte dem Vertriebenen nach, um ihm als treuer Begleiter zur Seite zu stehen. Der Einsiedel berichtete ihm getreulich das Reiseabenteuer seines Herrn und zeigte ihm die einzuschlagende Richtung.

Fioravanti hatte inzwischen seine erste rühmliche Heldentat vollbracht, wodurch er der Retter einer schönen, von zwei Wegelagerern überfallenen Base geworden, die soeben gefangen fortgeführt werden sollte. Nachdem er einen der Räuber erschlagen hatte, während der andere geflohen war, brachte er die Befreite bis in die Nähe des väterlichen Palastes, wo ihr keine Gefahr mehr drohte. Vergeblich aber war ihr Bitten und Flehen, ihr zu ihrem Vater, dem König des Landes, zu folgen, um die verdiente Belohnung zu empfangen. »Mit Freuden würde ich dir, meinem Retter, die Hand reichen, und mein Vater wäre wohl glücklich, dich als Sohn und Thronfolger willkommen zu heißen.« – »Wie verlockend solches auch wäre, teuerste Base,« erwiderte er freundlich, aber entschlossen, »so darf ich dir doch nicht folgen. Eine andere Bestimmung harrt meiner: ›Semper avanti! Immerdar weiter!‹ heißt meine Losung.« Und so mußte die Schöne allein heimkehren.

Als der nahende Rizieri den erschlagenen Räuber erblickte, wußte er sofort, durch wessen Schwert er gefallen war und daß Fioravanti nicht weit mehr vor aus war. Und groß war die beiderseitige Freude, als sie schon am folgenden Tage im Reiche des feindlichen Königs Fiore von Scandia zusammentrafen, gegen den sie nun gemeinsam zu Felde zogen. In wildem Kampfe töteten sie Söhne und Brüder und zahlreiche Ritter des Königs Fiore, bis sie schließlich in seine Gefangenschaft gerieten und in einen finsteren Turm gesperrt wurden.

Am Abend schlich Dusolina, die fünfzehnjährige Tochter des Königs Fiore, mit ihrer achtundzwanzigjährigen häßlichen Base Galerana, die nie von ihrer Seite wich, zum Turme, um die Gefangenen zu belauschen. Da hörten sie Fioravanti sagen: »Jetzt haben die Diener meines Vaters gerade ihr gutes Essen verzehrt. Sie find satt und zufrieden, und wir müssen hier im finsteren Keller verschmachten.«

Schnell holten die mitleidigen Lauscherinnen aus der königlichen Küche Wein, Brot und Fleisch. Schon glaubten bei ihrem Nahen die Gefangenen, sie sollten zum Galgen geführt werden. Wie erstaunten sie daher, als an Stelle der gefürchteten Henkersknechte die holden Jungfrauen erschienen.

Während nun die Hungrigen sich labten, flüsterte Dusolina ihrer Base ganz leise ins Ohr: »Du, ich liebe einen von den beiden!« – »Ich auch«, seufzte Galerana. »Aber welchen von beiden liebst du, den älteren oder den jüngeren?« – »Den Junker natürlich!« schmachtete Dusolina. »Das ist mein Held!« – »Nein,« eiferte Galerana, »das ist mein Held, ich sah ihn zuerst.« – »Wir wollen uns darüber nicht streiten, Galerana, fragen wir lieber, was sie selbst dazu sagen!« Damit wandte sie sich kurz entschlossen an Fioravanti: »Wenn du eine von uns beiden heiraten solltest, welche würdest du nehmen?« Fioravanti erschrak und antwortete ausweichend: »Ach, gütigste Signorina, ich muß ja bald sterben, wie sollte ich ans Heiraten denken?« – »Aber sprich, wenn du frei wärest, welche wähltest du dann?« – »Dich!« rief er entschieden, indem er zärtlich seine Hand auf ihre Schulter legte.

Da richtete Galerana in rasender Eifersucht ein Gebet an Apollino, einen Gott mit Stierhaupt, dessen Beistand sie erflehte. Dusolina aber versetzte ihr unterwegs einen so leidenschaftlichen Stoß, daß sie tot umsank. Dusolina stieß den Leichnam in den Wallgraben und schrie laut: »Zu Hülfe, zu Hülfe! Meine Base ist ins Wasser gefallen!« Und während nun die Leute verwirrt durcheinanderliefen und die Verunglückte suchten, öffnete sie den Turm und befreite die Gefangenen, die im Dunkel der Nacht unbemerkt entkamen. Doch versprach der dankbare Fioravanti, bald wiederzukommen. –

Die beiden Helden zogen nun in ein anderes Reich, wo Krieg geführt wurde. Nach edler Ritterart nahmen sie sich der gerechten Sache der Schwächeren an, der sie zum Siege verhalfen. –

Dann kehrten sie nach Scandia zurück. Dem Königspalaste gegenüber bezogen sie ein Gasthaus, von wo aus man Dusolina erblicken konnte.

Aber die Tochter des Gastwirts hatte sich auch in Fioravanti verliebt und hoffte, ihn für sich zu gewinnen, womit ihr Vater sehr einverstanden schien. »Wozu,« fragte er freundlich, »wollt Ihr Euch wieder in Kriegsgefahr begeben, edler Ritter, wo Ihr doch hier Euer gutes Auskommen haben könntet? Bleibt hier und heiratet meine Tochter, die Euch liebt! Ich überlasse Euch alles, was ich besitze!«

Doch auch Dusolina hatte Fioravanti gesehen und sofort einen Boten gesandt, der zu ihm sprach: »Bist du Fioravanti, so komme!« – »Fioravanti bin ich nicht«, gab er zur Antwort. »Ich kenne ihn nicht und habe nie diesen Namen vernommen.«

Dusolina merkte wohl, warum er so redete, und ließ ihm sagen, wer er auch sei, er möge nur kommen! Da folgte er dem Rufe und gestand ihr die Wahrheit: »Ja, ich bin Fioravanti, aber dein Vater darf es nicht wissen!«

Nach einigen Tagen höhnte der Hofnarr den König: »Vetter, sag' mir doch, warum beherbergst du deinen grimmigsten Feind, der deine Brüder und Ritter erschlagen hat?« – »Was soll das heißen? Sprich deut lich!« befahl der König. – »Fioravanti verkehrt mit deiner Tochter, als ob er dein Schwiegersohn wäre.« Da wurde Fioravanti entwaffnet, gefesselt, zum Tode verurteilt und wieder in den Turm geworfen.

In der Nacht aber begab sich Dusolina, die als Jüngste über die Schlüssel verfügte, zum Turm und sprach zu Fioravanti: »Wir müssen entfliehen! Ich kenne ein Geheimnis des Vaters: ein unterirdischer Gang führt vom Turm aus ins Freie.« – Den betraten sie nun. Doch ehe sie hinausgelangten, hemmte ein unterirdischer See ihre Schritte. »Hier hindurch mußt du mich tragen!« sprach sie. »Doch fürchte dich nicht! Das Wasser reicht dir nur bis zur Brust.«

Mitten im See stand ein Denkmal: ein eherner Ritter mit einem herrlichen Schwerte in der Hand. Fioravanti las die Inschrift: »Mein Schwert Durlindane reiche ich nur dem ersten Ritter der Welt.« – »Ach, das bin ich nicht!« schüttelte Fioravanti bescheiden den Kopf, »allerhöchstens der dritte!« – »Nimm das Schwert!« ermutigte ihn Dusolina. Und kaum berührte er den Griff, so öffnete sich die eherne Hand und überließ Fioravanti die kostbare Waffe. –

Als der König die Flucht der beiden entdeckte und den Turm sowie den Zutritt zum unterirdischen Gange offen fand, machte er sich auf, um sich bei Fioravantis Vater, dem alten König Fiorelli, zu beschweren. Der war aber gestorben. Nur die Mutter lebte noch, und die wollte nichts von Dusolina wissen, weil sie immer noch daran dachte, Fioravanti mit der Tochter des Herzogs Salardo zu vermählen. Darum tröstete sie Dusolinas Vater und sprach: »Laßt mich nur machen! Ich werde schon Rat schaffen.«

Kaum war Fioravanti nach einiger Zeit mit seiner jungen Gemahlin Dusolina und zwei Zwillingskindern in die Heimat zurückgekehrt, als seine Mutter die junge Königin zu verdächtigen begann. »Fioravanti,« raunte sie dem Sohne ins Ohr, »Dusolina, deine Frau, ist deiner nicht würdig. Ich werde dir's beweisen.« Und als eines Tages das junge Paar ausgefahren war, befahl sie einem Diener, sich unter das Bett Dusolinas zu verstecken. Dann sprach sie zu Fioravanti, wie er mit der Gattin ahnungslos heimkehrte: »Mache dich auf eine Überraschung gefaßt, wenn du das Schlafzimmer deiner Frau betrittst! Unter ihrem Bette liegt ein Mann, den sie liebt.«

Fioravanti wollte es nicht glauben. »Dusolina, ist's wahr?« stürmte er jähzornig in ihr Zimmer. – »Was meint mein Gemahl?« entgegnete sie erschrocken. – »Verstelle dich nicht! Wen verbirgst du im Zimmer?« – »Du redest wohl irre! Wen sollte ich verbergen? Du beleidigst deine Frau, die Königin, die Mutter deiner Kinder. Doch kannst du ja suchen.« Wer aber beschreibt ihr Entsetzen, als wirklich ein Mann unter ihrem Bette hervorkommt. »Elender,« schrie sie außer sich vor Entrüstung, »wer hat dich hereingelassen? O, jetzt weiß ich's«, rief sie, als sie die alte Königin schadenfroh grinsend neben dem König bemerkte. »Aber beim lebendigen Gott im Himmel, Fioravanti, ich bin so unschuldig wie deine Kinder!« – Sie wollte sich noch weiter verteidigen, er aber gebot ihr zu schweigen. Sie wurde zum Feuertode verurteilt. Als sie erkannte, daß er unerschütterlich fest blieb, verlor sie kein Wort mehr und ergab sich gefaßt in ihr Schicksal. »Ich habe als König gesprochen,« hatte er gesagt, »da gibt's kein Zurück!« Und das wußte sie wohl. – Mutig und stolz betrat sie den Scheiterhaufen. Lächelnd suchte sie nur die beiden Kleinen zu beruhigen, die sie auf dem Arm trug. Da traten die Henkersknechte mit den Fackeln herzu, den Holzstoß zu entzünden. Doch siehe da: Das dürre Holz wollte nicht brennen, auch als man noch Pech darauf goß. – Da ergriff Fioravanti trotzig sein Schwert, um sie mit einem Streiche in zwei Hälften zu spalten. Aber das Schwert versehrte nicht einmal ihr Haupthaar.

Schließlich sollte sie mit den Kindern im Walde umgebracht werden. Doch die barmherzigen Henker schlachteten an ihrer Stelle ein Tier, dessen Blut sie der Königin-Mutter als Zeichen der erfolgten Tötung überbrachten. –

Dusolina irrte nun im schaurig-wilden Walde umher und suchte vergeblich ein schützendes Obdach. Unter einem großen Baume ruhte sie aus, vom schwierigen Vorwärtsdringen und vom Tragen der Kleinen ermüdet, und sie wurde bald vom tiefsten Schlafe überwältigt. Beim Erwachen war der eine Knabe aus ihren Armen verschwunden: Ein Räuber hatte ihn entführt. Während sie sich nun umsonst danach umschaute, kam ein gewaltiger Löwe und entriß ihr den anderen Knaben, ohne ihm jedoch ein Leid zuzufügen. Vorsichtig schlich sie hinter ihm her, um zu sehen, wohin er mit dem Kindlein trabte.

Vielleicht könnte er doch noch verscheucht werden und es zurücklassen. Doch zu ihrer großen Verwunderung wartete er jetzt auf sie und schritt mit ihr langsam dem Meere zu. Und sie merkte, daß er sie nur begleiten und ihr das Kind tragen wollte.

Da fuhr gerade eine Barke mit zwölf Matrosen und einem Kapitän vorüber. Dusolina gab dem Schiffsherrn ein Zeichen, mitgenommen zu werden. »Gern würden wir dich mitnehmen,« rief der Kapitän, »aber wir fürchten den Löwen!« Da lief der Löwe zum Schein davon und versteckte sich in ein nahes Gebüsch. Nun holten die Matrosen die Unglückliche in einem Boote nach dem Schiffe hinüber. Sobald sie es aber bestiegen hatte, folgte der Löwe in gewaltigem Sprunge mit dem schreienden Kinde, das er Dusolina friedlich zu Füßen legte, während er selbst als ruhiger Fahrgast Mutter und Kind bewachte. Die Matrosen erholten sich bald vom Schreck, als sie sahen, daß der Löwe nur ein getreuer Begleiter war. Als der Kapitän jedoch eines Tages der schönen Frau Gewalt antun wollte, zerriß ihn der Löwe. Desgleichen auch noch sieben Matrosen, die es versuchten, sich an ihr zu vergreifen.

Nun wagte keiner der fünf übrigen Schiffer mehr, sie zu berühren, sondern verehrten sie als Herrin: »Ihr braucht Euch vor uns nicht zu fürchten,« sagten sie, »wir wußten doch nicht, daß der Löwe Euer Gatte ist, seid nun unsere Gebieterin! Wohin wollt Ihr?« – »An die Küste von Scandia!« befahl sie.

Als sie dort landeten, war das Volk, das die Ankommenden begrüßen wollte, sehr verwundert und erfreut, eine Signora mit einem Löwen und einem Kinde aussteigen zu sehen. Eine solche Herrschaft war noch nie bei ihnen erschienen. Der König bestand darauf, den hohen Besuch in seinem Palaste zu behausen.

Dusolina willigte ein, hüllte sich aber, um nicht erkannt zu werden, in drei dichte Schleier und verbrachte 18 Jahre mit dem Löwen und dem Knaben, den sie nun Oktavian di Leone nannte, in ihren Zimmern, ohne mit irgend jemand zu verkehren. Zu ihrer größten Freude konnte sie bald auch den anderen Sohn, Carlo Fiero, wieder heimlich ans Herz drücken. Der Räuber hatte ihn zunächst an einen reichen Kaufmann verhandelt, der ihn wegen seiner großen Schönheit dem König zuführte. –

Ohne einander zu kennen, wurden die Knaben gemeinsam erzogen. Besonders in der Waffenkunst zeichneten sie sich aus und leisteten dem König große Dienste, als er zur Zeit wieder Krieg führen mußte. Auch Fioravanti nahm teil und kämpfte gegen seinen Schwiegervater Fiore und darum, ohne es zu wissen, auch gegen seine beiden Söhne.

Auf dem Schlachtfelde befand sich also der König Fiore von Scandia mit seinen beiden Enkeln, dem Löwensohne und dem Räuberknaben, gegenüber Fioravanti. Dusolina auf stattlichem Zelter und der Löwe verfolgten den hin und her wogenden Kampf, in dein sich die berühmtesten Fechtkünstler der Welt gegenüberstanden. Sieben Tage rangen sie im Einzelkampfe miteinander, ohne sich zu verwunden. Als sie aber am siebenten Tage zu scharf aneinandergerieten und wahrscheinlich bald der Tod des einen und des anderen erfolgt wäre, sprang plötzlich der Löwe dazwischen und zwang die Kampfbegierigen, innezuhalten. »Haltet ein!« gebot er, »ehe ihr Unheil anrichtet, ohne es zu ahnen! Du bist Fiore, der Großvater der kämpfenden Zwillinge, deren Vater dein Gegner Fioravanti ist. Und die verschleierte hohe Frau hier ist Dusolina, ihre Mutter, deine Tochter und Fioravantis treue Gattin. Deine Mutter,« sprach er zu Fioravanti, »hat sie verleumdet. Sie ist unschuldig. Und du, König Fiore, wirst deiner Tochter verzeihen! Schließt Frieden und bleibt einig! Achtzehn Jahre habe ich Dusolina und die Kinder behütet und wünsche euch allen Heil und Segen! Ich bin euer Schutzherr, St. Markus.«

Damit verschwand er. –


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