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Von Mariechen und der heiligen Jungfrau - Märchen von August Leskien und K. Brugman: Litauische Volkslieder und Märchen


Von Mariechen und der heiligen Jungfrau

Es war einmal ein Mann, der hatte eine Frau, und die Frau brachte immer Mädchen zur Welt, und sie hatten schon acht Mädchen. Nun bekamen sie das neunte Mädchen, und da trug es der Vater fort und wollt es in einem See ertränken. Unterwegs kam ein altes Mütterchen auf ihn zu, und das Mütterchen frug ihn ›Wohin gehst du, Alterchen?‹ ›Ei ich gehe nach dem See und will dort das Mädchen ertränken; meine Frau hat mir neun Mädchen geboren, ich habe nichts für sie zu essen, und da trag ich das jetzt ins Wasser.‹ Da sagte das Mütterchen ›Gib mir das Kind!‹ Und der Alte gab ihr das Kind, und das Mütterchen nahm es mit heim. Das Mütterchen war aber die heilige Jungfrau.

Als das Mädchen zu Jahren gekommen war, sagte eines Tags das Mütterchen zu ihm ›Ich lasse dich allein zu Haus, ich muss einen Gang thun. Du magst dir alles im Haus besehn, nur geh nicht in dieses Kämmerchen da!‹ Das Mütterchen ging in den Wald, und das Mädchen blieb zu Haus. Es ging aber doch in das Kämmerchen, und sieh, da hing der Herr Jesus am Kreuz, und es floss Blut aus seinen Wunden. Und sie tupfte mit dem Finger in das Blut und schmierte es an die Lippen und ging darauf wieder aus dem Kämmerchen heraus. Das Mütterchen kam nach Haus, und es fragte ›Bist du in dem Kämmerlein gewesen, Mariechen?‹ ›Nein, liebe Mutter‹, antwortete Mariechen und leugnete es. Da führte das Mütterchen Mariechen hinaus in den Wald und liess es dort allein.

Es zog nun einmal ein König auf die Jagd, und seine Hunde liefen in den Wald hinein, trafen auf das Mädchen, das sass auf einem Apfelbaum, und sie schlugen an. Aber sie liefen alle weiter durch das Gehölz, nur einer blieb bei dem Apfelbaum stehn und bellte in einem fort. Da erschien das Mütterchen und sprach ›Mariechen, bist du in dem Kämmerchen gewesen?‹ ›Nein, liebe Mutter.‹ ›Wenn du lügst, so werd ich dir die Sprache nehmen!‹ Aber Mariechen gestand es nicht, und da nahm das Mütterchen ihr die Sprache. Nun konnte der König den einen Hund nicht finden und befahl nach ihm zu suchen. Seine Leute fanden ihn, wie er an einem Baum stand und bellte, und da erblickten sie auf dem Baum das Mädchen. Und sie gingen zum König zurück und sagten ›Wir haben den Hund gefunden, er stand an einem Baum, auf dem Baum sitzt ein Mädchen.‹ Da ging der König selbst hin und befahl das Mädchen von dem Baum herunterzunehmen. Und der König verliebte sich so in Mariechen; dass er sie mit nach Haus nahm und sie heiraten wollte. Alle sagten zu ihm ›Du willst ein wildes Thier zur Frau nehmen!‹ Aber der König heiratete sie doch. Wie nun der König einmal am Schreiben sass, schaute ihm Mariechen zu und sah, was er schrieb, und da nahm sie eine Feder und fing zu schreiben an; da freute sich der König, dass nun eins dem andern immer schreiben konnte, was es zu sagen hatte.

Sie bekamen aber ein Kind, und da erschien das Mütterchen und sprach zu Mariechen ›Mariechen, bist du in dem Kämmerlein gewesen?‹ ›Nein, liebe Mutter.‹1 Drauf sprach das Mütterchen ›Wenn du lügst, so werd ich dir dein Kind nehmen!‹ Aber sie leugnete es doch, und da nahm sie ihr das Kind. Wie das der König nun sah, dass das Kind verschwunden war, sprach er ›Am Ende hat sie es aufgefressen!‹ Über eine Zeit bekamen sie wieder ein Kind. Der König stellte Wächter an und befahl ihnen zu achten, dass sie nicht auch das Kind auffresse. Und wieder erschien das Mütterchen und fragte Mariechen ›Mariechen, bist du in dem Kämmerlein gewesen?‹ ›Nein, liebe Mutter, ich war nicht drin.‹ Da nahm ihr das Mütterchen auch dieses Kind. Und der König sagte wieder ›Sie hat es aufgefressen!‹ Wie Mariechen nun ihr drittes Kind zur Welt brachte, das war ein Mädchen, da befahl der König, dass man einen Scheiterhaufen errichte und sie mit ihrem Kind darauf verbrenne. Man führte sie mit dem Kind auf den Scheiterhaufen, dort setzte man sie hin, und das Holz wurde angezündet. Jetzt erschien wieder das Mütterchen und fragte Mariechen ›Bist du in dem Kämmerlein gewesen, Mariechen?‹ ›Ich bin nicht drin gewesen, liebe Mutter.‹ Darauf sprach das Mütterchen ›Von allen Seiten schlagen schon die Flammen um dich und du gestehst nicht ein, dass du in dem Kämmerlein gewesen bist!‹ Da sagte Mariechen ›Ja, liebe Mutter, ich bin drin gewesen.‹ Und es entstand jetzt eine kleine Kapelle auf dem Platz, wo der Scheiterhaufen war, und das Mütterchen gab Mariechen die Sprache wieder und gab ihr auch die zwei Kinder wieder, die sie ihr genommen hatte. Und der König und Mariechen haben noch lange Jahre zusammen gelebt.

Fußnoten

1 Vgl. Grimm I, 3 Marienkind »Da war der Königin verliehen zu antworten, sie blieb aber verstockt und sprach ›Nein, ich habe die verbotene Thür nicht aufgemacht‹.«


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