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Das Märchen vom guten Indianerchen - Märchen von Rudolf Lenz: Aurakanische Märchen und Erzählungen


Das Märchen vom guten Indianerchen

Es war einmal ein kleiner Indianer, der Sohn eines gar reichen Mannes. Eines Tages sagte er: »Ich will ausziehen.« So zog er denn aus und nahm ein gar schönes Pferd mit und all seine Kleidung, und machte sich auf den Weg. Da traf er einen alten Mann, der war gar hundearm. Als sie sich so trafen, redeten sie miteinander.

»Wo willst du hin?« fragte er den alten Mann.

»Ich bin auf dem Wege nach Arbeit, irgend wohin,« antwortete der Alte. »Und du, wo willst du hin?« fragte er den kleinen Indianer.

»Ich geh auch irgend wohin auf Arbeit. Ich werde dir mein Pferd und meine Kleider geben, sagte er zu dem Alten; gieb du mir deine Kleider.«

»Gut,« antwortete der andere.

So tauschten sie denn ihre Kleider aus, und der kleine Indianer machte sich wieder auf den Weg.

Unterwegs traf er alle alle Tiere versammelt. Da waren Vögel, Tiger, Löwen, Füchse, Stinktiere, Ameisen, Falken. Da hatte er Angst sich ihnen zu nähern; aber er ging doch hinzu. Da fragten ihn die Tiere: »Wo willst du hin?«

»Ich gehe meines Weges nach Arbeit,« antwortete der kleine Indianer.

»Ganz recht so! war die Antwort. Möchtest du wohl recht tapfer sein,« fragte man ihn.

»Ja freilich, möchte ich gern recht tapfer sein,« antwortete er.

»So will ich dir ein Zauberkraut geben,« sagte man ihm. Und alles was da an Tieren und Vögeln versammelt war, das gab ihm Zauberkräuter.

»Was dir auch geschehe, wenn auch noch so viele Männer dich töten wollen, wenn auch noch so viele hundert Reiche dich vernichten wollen, so werden sie dich nicht töten. Alles was du willst, wirst du werden. Willst du springen doppelt so weit wie ein schnelles Pferd, so kannst du es; willst du eine Ameise sein, so bist du es; willst du zwei Mannslängen tief unter der Erde sein, so kannst du es,« so sprachen die Tiere zum kleinen Indianer.

So ging er denn seines Weges weiter dahin. und sprach so: »Hier will ich Ameise sein!« Da wurde er eine Ameise. Ein bischen weiter hin sagte er: »Hier will ich einen Sprung tun doppelt so weit wie ein schnelles Pferd;« da tat er ihn.

Darauf stieg er zum Vulkan empor, und als er oben auf dem Gipfel angekommen war, da erblickte er das Haus des Cherruve. So wie er ankam, ging er in das Haus hinein. In der Tür des Hauses stand ein Mann, zu dem sagte er: »Hast du keine Arbeit, Vater?«

»Es giebt keine Arbeit; mach dass du fortkommst. Sogleich wenn der Cherruve kommt, wird er dich töten,« so sagte der Mann zu dem kleinen Indianer.

Da erblickte er ein so gar hübsches Mädchen.

Da kehrte er um und auf dem Rückwege kam er in eine Stadt.

»Hier möchte ich ein gar hübsches Vögelchen sein!« sagte er. Da war er eins. In dieser Gestalt kam er bei einer Jungfrau, die noch keinen Mann erkannt hatte, an, und setzte sich nahe beim Hause hin. Da sah sie ihn, und er gefiel ihr gar sehr.

»Geh, hol mir zwei Burschen, die mir das Vöglein fangen,« sagte das Mädchen.

Da ging ein Bursche hin und holte zwei Männer.

»Ich will doch sehen, ob ich es nicht allein fangen kann,« sagte das Mädchen, und ergriff das Vögelchen, denn es war ganz zahm. Da tat sie es ins Haus und steckte es in einen Kasten.

Als es Nacht wurde, legte sich das Mädchen zur Ruhe und schlief fest ein.

»Jetzt will ich hinaus!« sagte da der kleine Indianer. »Eine Ameise will ich sein!« Da wurde er eine Ameise. Als er nun aus dem Kasten heraus war, sagte er: »Jetzt will ich Mensch sein!« Da wurde er wieder Mensch und betrachtete das Mädchen. Da erwachte das Mädchen und rief: »Wer ist hier?« sprang auf und entzündete ein Feuer. Als sie aber das Feuer anzündete, da sagte der Heine Indianer: »Ich will Ameise sein!« So legte sich denn das Mädchen wieder schlafen. Eine Weile darauf sprach der kleine Indianer: »Ich will wieder Mensch sein!« und wieder näherte er sich ihr um bei ihr zu schlafen.

Da erwachte das Mädchen und schrie: »Hier ist jemand!« Als nun Leute herbeikamen, sahen sie niemand;. Da überlegte sie und sagte: »Was mag das nur sein? Sollte es etwa das Vöglein sein?« Damit machte sie den Kasten auf, aber da war das Vöglein darinnen.

Da sagte das Mädchen: »Wenn er noch einmal kommt, so werde ich mit ihm sprechen.«

Ein Weilchen darauf, als sie schlief, kam abermals der kleine Indianer heran. Da sprach sie wirklich zu ihm und sie unterhielten sich beide.

»Wer bist du denn eigentlich?« sagte sie zu ihm.

»Ei, ich bin ja der, den du vorhin gefangen hast,« antwortete er.

»Ja, wer bist du denn aber in Wahrheit?« fragte sie wiederum; »bist du etwa der Herrscher der Menschen?« sagte sie zu dem kleinen Indianer.

»Ich bin ein wirklicher Mensch,« antwortete er.

Da liess sie ihn bei sich schlafen und sie behandelten einander wie Verliebte. So verbrachten sie die Nacht bis zum Morgen. Als es tagte, da erblickten sie einander.

»Ich habe ein Mädchen gesehen, am Vulkan, die sah ganz so aus wie du. Bist du etwa einmal auf dem Vulkan gewesen?« so sagte er zu dem Mädchen.

»Ich selbst nicht. Aber vor langer Zeit hat mir der Cherruve eine Schwester entführt,« antwortete das Mädchen.

»Ich werde sie dir herbeiholen,« sprach der kleine Indianer. Somit machte er sich auf zu dem Vulkan.

»Hier will ich ein Falke sei,« sprach der kleine Indianer. Da war er einer. Als er dann zum Vulkan kam, wurde er wieder Mensch. So kam er zum Hause des Cherruve.

In der Thür des Hauses stand der Knecht des Cherruve. Wie nun der kleine Indianer ankam, so fragte er ihn um Arbeit.

»Giebt's hier keine Arbeit?« sagte der kleine Indianer.

»Hier giebt's überhaupt keine Arbeit,« sagte der Knecht des Cherruve und wurde böse.

»Warum bist du mir böse?« fragte der kleine Indianer.

»Wozu kommst du hierher; er wird dich sogleich töten,« war die Antwort.

Da wurde der kleine Indianer auch böse.

»Gut, dann werde ich dich ganz schnell töten,« sagte der Knecht des Cherruve und drang eilends auf ihn ein. Da versetzte der andere ihm einen Stich und so tötete ihn der kleine Indianer. Der Cherruve aber schlief. Da ging er zu ihm heran und tötete ihn ebenfalls. Darauf wollte er das Mädchen mitnehmen; sie aber wollte nicht kommen.

»Wenn du nicht gehst, werde ich dich auf der Stelle töten,« sagte er zu dem Mädchen. Da kam sie denn zu ihm heraus. Dann sagte der kleine Indianer: »Hier will ich ein Tiger sein!« So wurde er ein Tiger.

»Steig auf!« sagte er zu dem Mädchen. Da stieg sie auf, wie auf ein Pferd, und sie machten sich zusammen auf den Weg.

»Halt dich gut fest!« sagte er zu ihr. Das tat sie denn auch. So kamen sie an. Als sie nun ganz nahe waren, sagte er wieder: »Ich will Mensch sein!« und wurde Mensch. Als dann die Nacht heran kam, schlief er mit den beiden Mädchen zusammen. In der Mitte lag der kleine Indianer. So blieb er da.

»Ich will noch einmal ausziehen!« sagte er und zog aus und machte sich auf den Weg zu einem andern reichen Manne. Als er dort ankam, sagte er: »Giebt's keine Arbeit?«

Da bekam er Arbeit als Rinderhirt. Als er nun eintrat, sagte der Herr zu ihm: »Bring es mir nicht an das Ufer des Meeres. All mein Vieh kommt mir dort um.«

So führte er es auf die Weide und war ein gar guter Hirte.

Eine Weile darauf kam ein Cherruve heraus um das Vieh zu töten; und tötete wirklich drei Rinder.

»Hier will ich Falke sein!« sagte der kleine Indianer und wurde einer. Er zog sein Messer heraus und drang schnell auf den Cherruve ein. So tötete er ihn.

Eine Weile darauf machte sich der Herr auf. Als. er ankam sagte er zu dem Meinen Indianer: »Warum hast du das Vieh hierher gebracht?« und als er die toten Rinder sah, wurde er böse.

»Was macht denn das?« antwortete der kleine Indianer. »Der dir deine Rinder mordete, ist tot!« sagte er zu dem reichen Herrn.

»Ei, das ist Recht, mein Sohn!« sagte der Herr zum kleinen Indianer. »Wirf ihn mir ins Meer.«

Als sie aber den toten Cherruve ins Meer warfen, wurde er wieder lebendig. Nach einer kleinen Weile kam er wieder heraus. Da verwandelte sich der kleine Indianer abermals und tötete den Cherruve wieder. Dieses Mal aber liessen sie ihn liegen. Da schätzte der Herr den kleinen Indianer gar hoch.

»Gleich sollst du meine Tochter heiraten,« sagte er zu ihm.

»Ich will nicht!« antwortete der; »ja, wenn ich ein reicher Herr wäre, möchte ich mich wohl schon mit deiner Tochter verheiraten!«

»Heirate sie nur!« war die Antwort.

»Ich will nicht!« sagte der kleine Indianer. Da gab man ihm ein ungesatteltes Pferd, ein gar hübsches. Er zog aus und machte sich auf den Weg. Unterwegs traf er wieder einen hundearmen Mann. Da gab er ihm sein ganzes gesatteltes Pferd1. Darauf sprach er: »Ich will wieder zum Vulkan gehen.« Und er machte sich auf und kam auf dem Vulkan an. Da erblickte man ihn von weitem. Ein Schuss krachte und traf. Getroffen sank der kleine Indianer nieder und starb.


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