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Die Ziege, der Löwe und die Schlange - Märchen von T. von Held: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger


Die Ziege, der Löwe und die Schlange

Eines Tages spazierten eine Ziege und ein Löwe am Rande eines tiefen Waldes miteinander. Nicht weit von dem Dickicht lag ein friedliches Dorf, in dessen Hütten zufriedene Menschen lebten, und welches von einem hohen geflochtenen Zaun umgeben war.

»Wo kommst du heute her, lieber Freund?« fragte die Ziege den Löwen.

»Geradenwegs von einem Festmahl, welches ich guten Freunden von mir veranstaltet habe. Der Leopard, die Hyäne, der Wolf, der Schakal, die wilde Katze, der Büffel, das Zebra waren meine Gäste. Auch die Giraffe, das Elentier und der Springbock kamen zu mir.«

»Wie großartig das gewesen sein muß!« seufzte die Ziege. »Ich bin wirklich recht vereinsamt in dieser Welt; niemand kümmert sich um mich. Indessen darf ich nicht klagen; denn im allgemeinen finde ich Gras und Kraut im Überfluß, auch zumeist ein schattiges Plätzchen, um zu ruhen, und kenne eigentlich keinen wahren Kummer, also habe ich alle Ursache zufrieden zu sein.«

»Du kannst doch unmöglich behaupten wollen,« fuhr der Löwe auf, »daß du mich nicht beneidest um meine Kraft und Stärke wie um meine Würde?«

»Ich beneide dich in der Tat nicht«, entgegnete die Ziege gleichmütig, »denn bisher war mir weder deine Kraft noch deine Würde bekannt!«

»Wie? du weißt nicht, daß ich der stärkste von allen Bewohnern des Waldes bin? Du weißt auch nicht, daß, wenn ich die Stimme erhebe, alle, welche es hören, in Furcht erzittern?«

»Nein, von alledem weiß ich nichts! Fast möchte ich glauben, daß du deine Macht überschätzst; denn ich kenne Wesen, deren Waffen weit gefährlicher sind als die, mit denen du kämpfst. Deine Zähne sind zwar groß, deine Krallen scharf, dein Aussehen gewaltig und dein Gebrüll erschreckend, und dennoch glaube mir, gibt es ein kleines Geschöpf in diesem Walde, das gefürchteter ist als du, und solltest du dich im Streite mit ihm messen, so würdest du wahrscheinlich unterliegen.«

»Unsinn!« rief der Löwe ärgerlich, »du reizt mich zur Wut mit deiner albernen Rede. Noch heute bei meinem Gastmahl gaben alle Tiere zu, daß sie mit mir sich nicht vergleichen könnten, und ich sollte meinen, daß auch du mir recht geben wirst, wenn ich sage, daß ein einziger Griff von mir dich töten kann!«

»Darin hast du unbedingt recht, und ich darf keinen Anspruch darauf machen, für besonders stark zu gelten. Das Wesen aber, von dem ich sprach, ist jedenfalls nicht dein Gast gewesen.«

»Von wem redest du eigentlich?« fragte der Löwe verächtlich.

»Von der Schlange!« entgegnete die Ziege ruhig.

»Von der? Von dem kleinen, kriechenden Dinge, welches Mäuse und kleine Vögel frißt und sich zwischen Gras und niedrigem Gebüsch hindurchwindet?«

»Ja, ja, von derselben!«

»Ich bitte dich, denke doch daran, wie ein kleiner Teil meines Körpergewichtes das unscheinbare Ding zermalmen könnte!«

»Ich möchte dir nicht zu dem Versuche raten. Seine Zähne sind gefährlicher als die deinen.«

»Willst du in meinem Kampfe mit der Schlange gegen mich wetten?«

»Ja!«

»Und wenn du verlierst –?«

»So bin ich für immer dein Sklave, und du kannst über mich verfügen, wie es dir beliebt. Aber wenn du unterliegst, – was dann?«

»Wähle, was du dann verlangst.«

»Schön! Dann will ich hundert Bananentrauben haben. Am besten wär's freilich, du brächtest sie gleich mit auf den Kampfplatz.«

Auf diese letzten Worte zu antworten, hielt der Löwe für überflüssig.

»Wo aber ist die Schlange, die den Kampf mit mir aufnimmt?« fragte er daher.

»Ganz nahe!« antwortete die Ziege. »Hole du nur die Bananen, und wenn du zurückkehrst, wirst du die Schlange hier vorfinden.«

Stolz schritt der Löwe von dannen, um die Bananen zu holen, indessen die Ziege in das Gebüsch ging, wo die Schlange in tiefem Schlaf zusammengerollt unter einem Baume lag.

»Schlange,« rief die Ziege, »wach' auf! Der Löwe will mit dir kämpfen. Er hat mit mir um hundert Bananentrauben gewettet, die er mir geben muß, wenn er verliert; ich habe aber mein ganzes Leben in seinen Dienst gestellt für den Fall, daß er Sieger bleibt. Wenn du meinem Rate folgst, so ist kein Zweifel daran, daß du über den Löwen triumphieren wirst.«

»Gut,« entgegnete die Schlange schläfrig, »was soll ich denn tun?«

»Krieche auf einen Baum, der hier in der Nähe steht, und wenn der Löwe kommt, so rufe ihn, damit er ganz dicht zu dir trete. In seinem unbegrenzten Hochmut und voll von dem Glauben an seine Unnahbarkeit wird er sich ganz sorglos dir nähern und sich auch noch nicht erschrecken, wenn du deinen Kopf dem seinen ganz nahe bringst. Dann bohre deine Giftzähne tief in seine Augenbrauen, und du wirst alsbald des Kampfes Sieger sein.«

»Schon gut!« sagte die Schlange, die inzwischen ganz munter geworden war, »aber was soll denn mein Lohn sein?«

»Ich werde dein Freund und Diener fürs Leben sein.«

»Einverstanden! Führe mich!«

Darauf führte die Ziege die Schlange auf den Kampfplatz und zu dem Baume, den sie vorher schon bezeichnet hatte.

Bald darauf kam der Löwe und hinter ihm her in langer Reihe die Tiere, welche ihm dienten und für ihn die Bananen trugen. Nachdem der Löwe diese Tiere entlassen hatte, wandte er sich zur Ziege.

»Nun, Zieglein,« sagte er freundlich herablassend, »wo ist deine starke Freundin? Ich brenne darauf, sie zu sehen.«

»Bist du der Löwe?« fragte da eine feine Stimme von dem Baume.

»Jawohl! Wer aber, wenn ich fragen darf, bist du, daß du mich nicht kennst?«

»Ich bin die Schlange; meine Augen sind schwach, und ich kann mich nicht schnell bewegen. Tritt näher, damit ich dich sehen kann.«

Der Löwe brach in ein laut schallendes und hochnäsiges Gelächter aus; dann trat er näher. Die Schlange streckte ihren Kopf weit vor und blies ihren Odem dem Löwen so stark ins Gesicht, daß ihre ganze schlanke Gestalt erzitterte.

»Du zitterst ja,« sagte der Löwe verächtlich.

»Ja,« entgegnete die Schlange, »je mehr ich zittere, um so schwerer treffe ich,« und dabei schoß sie vorwärts und bohrte ihren Giftzahn tief in die linke Augenbraue des Löwen, und im selben Augenblicke ringelte sich ihr ganzer geschmeidiger Körper um den Hals des Löwen und vergrub sich in seine dicke Mähne. Das Gift brannte wie Feuer in dem Kopf und dem Körper des Verwundeten; als es bis zum Herzen gedrungen war, fiel er nieder und war tot.

»Gut! sehr gut,« meckerte die Ziege und betrachtete lüsternen Auges die Bananen. Darauf schworen Schlange und Ziege sich ewige Freundschaft.

»Jetzt folge mir!« sagte dann die Schlange. »Ich habe eine kleine Arbeit für dich!«

»Arbeit, beste Freundin? was denn?«

»O sie ist leicht und nicht ermüdend! Wenn du diesen Pfad hier entlang gehst, so kommst du in ein Dorf, in dem Menschen wohnen. Dort erzähle, was ich getan habe und zeige den Leuten den toten Löwen. Sie werden sich darüber freuen, und du wirst in den Gärten der Menschen Nahrung im Überfluß finden. Freilich werden sie dich schlachten, sobald du fett bist; aber dafür hast du auch ein Leben voller Genuß und Behaglichkeit gehabt.«

»Mir ist die Arbeit recht,« entgegnete die Ziege, »und vor dem Ende meines Lebens graut mir auch nicht. Was dich anbetrifft, so fürchte ich, daß du niemals Ruhe und Frieden finden wirst; denn Tiere und Menschen werden dich stets als Feind fürchten und verabscheuen.«

Darauf schieden sie.

Die Ziege ging den ihr gewiesenen Pfad entlang und kam bald zu den Menschen und ihren Wohnungen. Vor dem Dorfe sah sie ein Weib, das war damit beschäftigt, sich Holz zu sammeln. Als es aufblickte und ein Tier mit spitzen Hörnern auf sich zukommen sah, erschrak es und wollte fortlaufen; als es jedoch sein friedliches Meckern hörte und sah, wie es hin und wieder stehen blieb, um saftiges Grün und Gras zu fressen, besann es sich und rief die Ziege an, die dann auch zögernd nahe trat.

»Folge mir,« sagte die Ziege, als sie ganz nahe gekommen war; »ich will dir etwas Seltsames zeigen.«

Zwar erschrak die Frau ein wenig, als sie das Tier sprechen hörte, aber ihre Neugierde gewann die Oberhand, und sie folgte, bis sie zu der Stelle kam, an der der tote Löwe lag. Dort blieb sie stehen und rief aus:

»Was ist denn dieses? Was bedeutet das alles?«

Die Ziege erwiderte:

»Dieser hier war einst der König aller Tiere; vor ihm fürchteten sich alle Wesen, welche im Walde und auf dem Felde lebten. Aber er wurde zu stolz, zu hochmütig und fühlte sich zu sehr als derjenige, dem alles untertan sein mußte. Deshalb forderte ich ihn zum Kampfe heraus mit einem kleinen unscheinbaren Wesen, welches in Hecken und Büschen lebt, und du siehst, er ist im Kampfe gefallen!«

»Und wer war der Sieger?«

»Die Schlange.«

»Du hast recht,« rief das Weib, »die Schlange ist die Beherrscherin aller Wesen, nur nicht des Menschen.«

»Du hast wahr gesprochen!« antwortete die Ziege. »Das weiß auch die Schlange, und deshalb sandte sie mich zu den Menschen, daß sie mich pflegen und bei sich behalten sollten. Bin ich aber fett und rund geworden, so werden sie mich töten und verzehren. Das waren die Worte der Schlange.«

Die Frau horchte auf diese Worte und merkte sie wohl. Dann zog sie des Löwen Fell ab, trug es in das Dorf und erzählte dort den Leuten von ihrem wunderbaren Erlebnis. Von jenem Tage an ist die Ziege ein Mitglied des menschlichen Haushaltes geworden, und der Dank dafür gebührt der Schlange; denn hätte sie nicht die Ziege zum Menschen geschickt, so wäre sie für immer wild und unstät geblieben, wie ihre Schwester, die Antilope.



Fußnoten

1 Dies Märchen wurde Mr. Stanley von einem Eingeborenen der Kongogegend erzählt und gibt Zeugnis von der regen Phantasie und dem wunderbaren Talent der meisten Stämme der Afrikaneger, die Tiere mit Ideen und Sprache zu beleben.


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