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Der Besuch im Himmel - Märchen von Theodor Koch-Grünberg: Indianermärchen aus Südamerika


Der Besuch im Himmel

In alter Zeit war ein Krieg zwischen zwei Stämmen. Der eine Stamm hieß Kuyalakog, der andere Palawiyang. Der Krieg war in der Gegend des Uraukaima-Gebirges. Die Palawiyang griffen die Kuyalakog an. Sie töteten einige, als sie zur Pflanzung gegangen waren. Da vereinigten sich die Kuyalakog, um die Palawiyang zu vernichten. Sie kamen und griffen sie an. Sie kamen an das Dorf, das aus fünf Häusern bestand, und zündeten es an zwei Stellen an, bei Nacht, damit es hell wurde, und die Feinde nicht im Dunkeln entfliehen konnten. Sie töteten viele mit der Keule, als sie aus den Häusern entweichen wollten.

Ein Mann namens Maitchaule legte sich unversehrt zwischen einen Haufen Toter und bestrich das Gesicht und den Leib mit Blut, um die Feinde zu täuschen. Die Kuyalakog gingen weg. Sie glaubten, alle seien tot. Der Mann blieb allein zurück. Dann ging er weg, badete und ging nach einem anderen Haus, das nicht weit entfernt war. Er dachte, es seien Leute dort, aber er fand niemand. Alle waren geflohen. Er fand nur Maniokfladen und alten Rostbraten und aß. Dann dachte er nach. Er ging aus dem Haus hinaus und weit weg. Dann setzte er sich hin und dachte nach. Er dachte an seinen Vater und an seine Mutter, die die Kuyalakog getötet hatten, und daß er nun niemand mehr habe. Dann sagte er: »Ich will mich zu meinen Gefährten legen, die tot sind!« Er kehrte voll Furcht nach dem verbrannten Dorf zurück. Dort waren sehr viele Aasgeier. Maitchaule war ein Zauberarzt und hatte von einem wunderschönen Mädchen geträumt. Er verscheuchte die Aasgeier und legte sich neben seine toten Gefährten. Er hatte sich wieder mit Blut beschmiert. Er hielt die Hände an den Kopf, damit er sofort zugreifen konnte. Dann kamen die Aasgeier wieder und stritten sich um die Leichen. Da kam die Tochter des Königsgeiers. Was tat nun die Tochter des Königsgeiers? Sie setzte sich Maitchaule auf die Brust. Als sie ihm in den Leib hacken wollte, ergriff er sie. Die Aasgeier flogen weg. Er sagte zur Tochter des Königsgeiers: »Verwandle dich in eine Frau! Ich bin so allein hier und habe niemand, der mir hilft.« Er nahm sie mit nach dem verlassenen Haus. Dort hielt er sie wie einen zahmen Vogel. Er sagte zu ihr: »Ich gehe jetzt fischen. Wenn ich zurückkehre, will ich dich in eine Frau verwandelt wiederfinden!« – Die Leute, die geflohen waren, hatten eine Pflanzung, Bananen usw.

Er ging fischen und verschloß das Haus und ließ die Tochter des Königsgeiers zurück. Da verwandelte sie sich in eine Frau. Es war viel Mais im Haus. Sie entkörnte den Mais, zerstieß ihn im Mörser, setzte einen Topf an das Feuer und tat alle Arbeit einer Frau. Sie machte Kaschiri und tat es in eine Kürbisflasche. Dann verwandelte sie sich wieder in einen Aasgeier, denn sie schämte sich noch vor dem Mann. Da kam Maitchaule zurück mit Fischen und Wildbret, einem Hirsch. Er kam in das Haus und hatte großen Durst. Er fand das Haus offen, aber der Aasgeier war drinnen. Er legte den Hirsch und die Fische nieder. Dann ging er aus dem Haus und fand Spuren von Menschen. Es waren die Spuren der Frau, die Brennholz geholt hatte. Er ging den Spuren nach und fand, daß jemand im Wald Brennholz gebrochen hatte. Da wurde er mißtrauisch. Dann ging er den Spuren nach, die zurückführten, und kam so nach dem Hause zurück. Er fand auch Spuren, die zum Hafen gingen, wo das Mädchen Wasser geholt hatte. Er ging ihnen nach und kam zum Hafen. Alle Spuren, die er fand, führten zum Hause zurück. Er kam zum Haus und fand die Kürbisflasche mit Kaschiri. Er fand eine Kalabasse und trank Kaschiri. Dann legte er sich nieder und dachte nach. Er dachte über die Menschenspuren nach. Vielleicht seien es Leute, die ihn angreifen wollten. Er fand auch Wasser im Haus und Brennholz. Es fehlte nichts. Dann zerlegte er den Hirsch, machte einen Bratrost, röstete den Hirsch und gab der Tochter des Königsgeiers davon zu essen. Diese aß davon. Er briet auch alle Fische und schlief dann in dieser Nacht.

Vor Tagesanbruch verwandelte sich die Tochter des Königsgeiers wieder in einen Mensch und ging weg, Wasser zu holen. Sie brachte Wasser und ließ das Haus offen. Er hatte das Haus wohl verschlossen. Er schlief. Sie machte Feuer an, stellte den Pfeffertopf ans Feuer und tat ein Stück Hirschbraten hinein. Sie kochte es und ließ es am Feuer stehen. Als Maitchaule am Morgen erwachte, war das Essen fertig. Er hatte Maniokfladen. Er blieb mißtrauisch, als er den Topf am Feuer fand und sagte: »Hier sind Leute!« Das Mädchen hatte sich wieder in einen Aasgeier verwandelt. Sie wollte sich ihm nicht zeigen. Dann ging er weg mit Bogen und Pfeilen, verschloß das Haus, ging ein Stück weit und kehrte dann zurück. Er wollte sehen, wer dies alles tat. Er verbarg sich in der Nähe des Hauses. Er hatte seine Angelrute absichtlich mitten im Haus liegen lassen. Er blieb versteckt und wartete. Da öffnete das Mädchen das Haus und trat heraus. Es war ein sehr schönes Mädchen mit vielen Perlenschnüren an der Brust, an den Armen und Beinen. Sie hatte eine schöne Perlenschürze an. Das Mädchen ging zum Hafen. Maitchaule ging in das Haus, nahm die Angelrute und verbarg sich hinter dem Eingang. Da kam das Mädchen zum Hause zurück. Sie wußte von nichts und glaubte, der Mann sei weit. Sie kam in das Haus zurück mit Wasser. Sie stellte das Wasser hin und legte sich in die Hängematte. Da kam Maitchaule hinter dem Eingang hervor mit der Angelrute in der Hand. Er sagte: »Jetzt habe ich eine Frau!« Sie war sehr schön und voll Perlen an Armen und Beinen. Sie wickelte sich voll Scham in die Hängematte. Er sagte: »Schäme dich nicht!« und legte sich zu ihr.

Dann sagte er zu ihr: »Habe ich es dir nicht gesagt, du solltest dich in eine Frau verwandeln, um mit mir zu leben? Jetzt habe ich keine Mutter mehr. Ich habe niemand mehr. Ich bin ganz allein. Jetzt gehe nicht weg! Bleibe hier als meine Frau! Wir haben Pflanzungen. Ich habe die Pflanzungen nicht angelegt, aber ich habe sie übernommen. Meine Verwandten sind alle geflohen aus Furcht vor dem Krieg mit den Kuyalakog. Ich bin ganz allein. Jetzt kommen meine Verwandten nicht mehr. Wenn Essen fehlt, ich gehe jagen und fischen. Ich bringe dir Hirsch, Tapir oder Fische. Ich bin da, daß du keinen Hunger leidest. Jetzt bleibe hier im Haus und mache Maniokfladen für uns zu essen! Ich gehe jagen! Gehe nicht weg!«

Er ging jagen und fischen und ließ sie im Hause zurück. Er tötete einen Hirsch und zwei Schweine und brachte zuerst den Hirsch heim. Sie machte gerade Maniokfladen, als er zurückkehrte. Er ging wieder weg, um die Schweine zu holen. Er brachte das eine heim und ging wieder weg, das andere zu holen. Er brachte auch das andere. Sie hatte Maniokfladen bereitet und war dabei, Kaschirimasse zu machen. Er zerlegte den Hirsch und die beiden Schweine und legte die Stücke auf den Bratrost. Dann sagte er: »Das kannst du essen, wie du willst, roh oder gekocht!« Dann aß er mit ihr, und sie gewöhnte sich schnell an ihn. Sie hatte ihn gern, denn er brachte viel Wildbret heim. Er schlief die Nacht mit ihr.

Danach blieben sie einige Zeit in diesem Haus. Dann sagte sie: »Jetzt will ich meine Familie sehen! Habe Geduld!« Maitchaule wollte sie nicht lassen. Er sagte zu ihr, wenn sie wegginge, würde er einen Strick nehmen und sich erhängen. Da sagte sie: »Nein! Ich gehe nicht weg! Ich gehe rasch, um meine Familie zu besuchen. Bleibe hier und erwarte mich hier! Gehe nicht weg von hier! Ich kann dich nicht mitnehmen, ohne daß dich mein Vater sieht. Ich gehe, Kumi holen und Kleider, dich zu bekleiden, damit du fliegen kannst, wie wir fliegen. Ich werde meinem Vater sagen, daß ich mit dir verheiratet bin.« – Dann sagte sie: »Weine nicht, wenn du mich vor dem Hause zum Himmel fliegen siehst!« – Er ging mit ihr zum Haus hinaus und sagte zu ihr: »Gehe nicht weg! Bleibe bei mir! Laß deinen Vater!« Sie beruhigte ihn und sagte: »Ich werde dich nicht verlassen. Ich will nur meinem Vater sagen, daß er jetzt einen Schwiegersohn hat.« Maitchaule wollte sie nicht weglassen. Da sagte sie: »Gut! Schneide mir meine Haare ab!« Der Mann schnitt ihr die Haare ab. Dann sagte sie: »Schneide ein Stück Bambus ab, stopfe die Haare hinein, blase Tabakrauch darauf und verstopfte es mit Bienenwachs! Wenn ich morgen nicht zurückkehre, so verstopfe es mit Pech! Dann muß ich dort sterben!« Dann verabschiedete sie sich und sagte: »Wenn ich nicht morgen sehr früh zurückkomme, komme ich nachmittags.« Dann ging sie weg, und er schaute ihr nach. Sie hüpfte mehrmals auf, verwandelte sich in einen Aasgeier und flog in Kreisen hoch und immer höher. Er schaute ihr nach, bis sie ganz klein wurde und verschwand. Da trat er ins Haus zurück, legte sich in die Hängematte und dachte viel nach. Er schlief nicht in dieser Nacht, sondern dachte immer nach.

Es wurde Morgen. Als sie wegging, hatte sie zu ihm gesagt: »Gehe morgen sehr früh vor das Haus und erwarte mich! Wenn ich nicht zurückkomme, erwarte mich bis zum Abend!« Er machte sich eine Zigarre im Haus. Dann ging er aus dem Haus und setzte sich hin. Als er mit Rauchen fertig war, ging er ins Haus und legte sich schlafen. Er träumte. Im Traum sagte sie zu ihm: »Ich bin schon auf dem Heimweg mit zwei Schwägern.« Er erwachte plötzlich, ging vor das Haus und setzte sich nieder. Er war aufgeregt durch den Traum. Er schaute in die Höhe. Da sah er drei Aasgeier, wie er geträumt hatte, zwei weiße und einen schwarzen. Er wurde froh, als er sie erblickte. Sie kamen, in Kreisen fliegend, herab, bis sie ganz nahe über ihm waren. Sie sagte zu ihm: »Hier sind meine Brüder! Schäme dich meiner nicht! Ich schäme mich deiner auch nicht! Ebenso kannst du mit diesen da verkehren.«

Die Schwäger gewannen ihn lieb. Dann sagte sie: »Wir bleiben hier zwei Tage und gehen dann weg zum Himmel.« Da forderten ihn die Schwäger auf, einen Hirsch für sie zum Essen zu töten. Er schoß einen Hirsch und brachte ihn heim. Die Schwäger zerlegten den Hirsch, kochten ihn und aßen ihn. Es blieb ein Rest übrig, den sie auf dem Bratrost rösteten.

So blieben sie zwei Tage im Hause des Schwagers. Dieser zeigte ihnen seine Pflanzung, seinen Mais. Als sie kamen, hatten sie ihm ein Federkleid der Königsgeier mitgebracht. Die Frau befahl, ihren Mann damit zu bekleiden. Er zog das Kleid an und verwandelte sich in einen Aasgeier. Die Frau kaute Kumi und blies ihren Mann damit an. Sie sagte: »Jetzt wollen wir weggehen! Habe keine Furcht! Ich komme hinter dir her.« Die Schwäger flogen schon in Kreisen über ihm und erwarteten ihn. Sie sagte zu ihm: »Jetzt schlage mit den Flügeln! Wenn du mit den Flügeln schlägst, wirst du die Leiter sehen, die dort festgebunden ist.« Als er mit den Flügeln schlug, wurde er leicht. Er sah die Leiter und stieg auf ihr hinter den Schwägern her. Seine Frau flog hinter ihm her, um ihn aufzufangen, wenn er fiel. Er stieg empor, bis er dem Himmel nahe war. Als er dem Himmel nahe war, sah er den Eingang des Königsgeiers. Seine Frau war dicht hinter ihm, um ihn aufzufangen, wenn er fiel. Sie kamen an den Eingang und traten ein. Das Haus des Königsgeiers war nicht weit vom Eingang des Himmels. Die Schwäger und die Frau gingen voraus. Er blieb zurück. Sie sagten: »Wir wollen unsern Vater rufen, damit er dich sieht!«

Sie kamen in das Haus des Königsgeiers, Kasanapodole, des Vaters der Königsgeier, und sagten zu ihm, daß der Mann dort stehe. Der Alte freute sich und ging mit seinen Söhnen hinaus, um den Mann seiner Tochter zu sehen. Er fand Maichtchaule und sagte zu ihm: »Wir wollen ins Haus gehen!« Er nahm ihn mit in sein Haus. Er nahm ihn sehr gut auf. Es waren viele Leute da. – Wenn sie im Himmel ankommen, ziehen die Königsgeier die Kleider aus und sind dann Leute.


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