Eine Gedichtanalyse besteht aus zwei Teilen: die Analyse des Gedichts und dessen Interpretation. Bei der Analyse heißt es genau hinsehen: Das Gedicht wird in seine Bestandteile zerlegt (Strophen, Verse, Silben) und die Funktion der Elemente erkannt (z. B. Stilmittel, Reimschema). Bei der anschließenden Interpretation findet eine Deutung der Ergebnisse statt.
Eine Gedichtinterpretation kommt also niemals ohne eine vorhergehende Analyse aus!
Vorbereitung
Zuerst muss das Gedicht mehrmals gelesen werden.
Anhand der meist neben dem Titel stehenden Jahreszahl kann es einer literarischen Epoche zugeordnet werden. Es schadet nicht, sich über die entsprechende literarische Epoche und auch über prägende politische und historische Ereignisse dieser Zeit zu informieren, sofern darüber noch nichts bekannt ist. In vielen barocken Sonetts werden z. B. die durch den 30-jährigen Krieg verursachten Leiden thematisiert.
Der erste Durchgang dient dazu, sich einen Überblick zu verschaffen. Hierbei wird der Inhalt erkannt und unbekannte Wörter können im Wörterbuch nachgeschlagen werden. Beim Lesen empfiehlt es sich, auffallende Textstellen bereits mit Textmarker zu kennzeichnen, z. B. Wortwiederholungen. Besonders wichtig ist es, sich nicht von Vermutungen die exakte Sicht auf den Text verstellen zu lassen. Um dies zu vermeiden ist es hilfreich, bewusst langsam und genau zu lesen und sich neben jeder Strophe einige Stichworte zum Inhalt zu notieren. Auch sollte man sich in Gedanken die Frage stellen: Wie kann ich den Inhalt in eigenen Worten wiedergeben? Daran merkt man schnell, ob man den Inhalt begriffen hat.
Beim zweiten Lesedurchgang kann bereits genauer auf Auffälligkeiten geachtet werden, z. B. wiederholen sich bestimmte Wörter oder Themen? Welches Gefühl vermittelt das Gedicht? In einem dritten Durchgang wird darauf geachtet, ob sich im Gedicht typische Epochenmerkmale finden lassen.
Einfälle am besten sofort notieren - dies kann besonders beim Schreiben der Interpretation hilfreich sein!
Es lohnt sich, hier ausreichend Zeit zu investieren, um Fehler bei Analyse & Interpretation zu vermeiden. Das Schreiben der weiteren Teile der Analyse geht mit gründlicher Vorbereitung wesentlich schneller von der Hand.
1. Teil: Die Gedichtanalyse
In die Einleitung der Gedichtanalyse gehört auf jeden Fall der Titel des Gedichts, Name des Autors und das Erscheinungsjahr. Weiters wird die Art des Gedichts (z. B. Ballade, Sonett etc.) und eine zeitliche Einordnung (literarische Epoche) angegeben. Hier findet auch eine Deutungshypothese Platz; also eine Vermutung, wie das Gedicht gemeint sein könnte.
Der Hauptteil der Analyse beginnt mit einer kurzen Wiedergabe des Inhalts. Zwei Fragen müssen dabei unbedingt beantwortet werden: Gibt es ein lyrisches Ich? Was ist der Zusammenhang zwischen Titel und Gedicht?
Dann wird der Aufbau analysiert: Wie viele Strophen und Verse gibt es? Welches Reimschema findet Anwendung (z. B. Paarreim: A-A-B-B, Kreuzreim: A-B-A-B…)? Gibt es ein Versmaß (z. B. Jambus: + - [Betonte Silbe, dann unbetonte Silbe]; Daktylus: +- - [Eine betonte, zwei unbetonte Silben]…)?
Nach dem Aufbau wird die sprachliche Ebene untersucht: Welche Stilmittel (z. B. Wiederholung, rhetorische Frage...)werden verwendet? Wie ist der Satzbau (parataktisch oder hypotaktisch)? Kommen bestimmte Wortfelder häufig vor (z. B. Wortfelder um das Wort "Liebe")? Welche Zeitform (z. B. Präsens, Präteritum, Perfekt…) findet Anwendung und ändert sie sich im Laufe des Gedichts?
Im Kopf behalten sollte man beim Schreiben der Analyse immer, dass Form und Inhalt eines Gedichts sich aufeinander beziehen, z. B. sind Zäsuren oder Brüche im Reimschema oft genauso Hinweise auf besonders bedeutsame Stellen, wie auch die Häufungen von Adjektiven u. ä.
Es lohnt sich, diesen Stellen besondere Aufmerksamkeit zu schenken!
2. Teil: Die Gedichtinterpretation
Im interpretatorischen Teil der Gedichtanalyse geht es um die Bedeutung, welche nun den zuvor in der Analyse betrachteten Elementen zugeordnet wird.
Zu Beginn der Interpretation wird die Wirkung der Ergebnisse der Analyse beschrieben, z. B. welche Stimmungen und Gefühle werden durch die verwendete Sprache vermittelt? Wie ist der Zusammenhang von Funktion und Inhalt?
Im mittleren Teil wird die Intention des Gedichts herausgearbeitet: Was wollte der/die Autor/in mit dem Gedicht ausdrücken und ist dies gelungen? Hier kann auch thematisiert werden, ob anfängliche Vermutungen bestätigt oder widerlegt wurden z. B. ob ein auf den ersten Blick traurig erscheinendes Gedicht womöglich doch eher als hoffnungsvoll zu bezeichnen ist?
Für alle aufgestellten Behauptungen müssen Beweise im Text gefunden werden. Eine Interpretation ist nie richtig oder falsch - jede Aussage muss aber stichhaltig mit Zitaten belegt werden können. Dabei ist es wichtig, Textzitate unbedingt mit entsprechender Verszeile anzugeben. Beim Abschreiben eines Zitats muss auf die exakte Schreibweise geachtet werden (auch wenn sie nicht mehr der aktuellen Rechtschreibung entspricht!).
Man erinnert sich beim Arbeiten am besten immer wieder daran, dass eine Interpretation nicht so ist, wie man es will oder erwartet, sondern wie es sinnvoll anhand des Textes begründbar ist.
Am Schluss der Interpretation kann besprochen werden, ob das Gedicht Fragen aufwirft, die es nicht beantwortet. In manchen Fällen ist es angebracht, hier eine eigene Meinung zum Gedicht zu formulieren, z. B. wenn die Gedichtanalyse als Schulaufgabe zu erledigen ist und die Lehrkraft zum Darlegen der eigenen Meinung auffordert.